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Die Akte Veden

Die Akte Veden

Titel: Die Akte Veden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Meier
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dass er nicht daran glaubte, sein Cousin könne mit irgendwem mitfühlen, aber er hielt die Klappe. Es war nicht zu übersehen, dass Loki den Direktor mit dieser billigen Masche zum Reden brachte.
    Veden senkte den Blick wieder, aber die Wut war noch nicht aus seinem Gesicht gewichen. »Ich werde Ihnen das jetzt erzählen, damit Sie sehen, dass Sie mich festnehmen müssen. Aus keinem anderen Grund.«
    Mit einer so schnellen Bewegung, dass Tim sie kaum nachvollziehen konnte, griff der Direktor nach seinen Zigarillos, schob sich eine in den Mund und zündete sie mit der rechten Hand an, während die linke das Etui auf den Tisch zurückfallen ließ. Das Ganze hatte nicht einmal eine halbe Sekunde gedauert. Tim verfluchte diesen Kampfsport, den hier alle lernten, und brachte seine Hand wieder näher an die Pistole.
    »Ich musste ein ganzes Schuljahr aussetzen«, begann Veden. »Nicht nur, weil ich verletzt war, sondern auch, weil ich beinahe den Verstand verlor. In der Zeit im Krankenhaus fing ich an, die Imagination zu benutzen, um mich dem Schmerz und der Trauer zu entziehen. Ich benutzte die Imagination, um Erinnerungen raufzuholen, die mit Hora und Margit in Verbindung standen. Ich wollte sie wieder lebendig werden zu lassen. Das tat gut, und ich redete mir ein, ich tue das, damit ich Abschied nehmen könnte. Allerdings ging das mächtig in die Hose, um es auf Deutsch zu sagen.« Die grauen Augen musterten Tim, blieben anschließend wieder auf Loki liegen. »Die Imagination hat der Imago in der Hand. Das soll heißen, der Imago befehligt, was geschehen soll. Es kann innerhalb der Übungen einen passiven und einen aktiven Part geben, beispielsweise wenn einer der Übenden in ein imaginäres Bild des anderen eindringen soll, aber man hat dabei immer die Kontrolle. Man kann jederzeit aufhören und die Augen aufmachen, und damit endet die Imagination.« Er zog an der Zigarillo. »Innerhalb kurzer Zeit verlor ich diese Kontrolle. Meine Imaginationen verselbstständigten sich, und ich tat nichts, um das zu verhindern. Margit verschwand vollständig aus meiner Erinnerung, und Hora übernahm darin eine übergeordnete Rolle. Hora war immer eine Art Vorbild für mich, beinahe wie ein Vater. Innerhalb der Imagination überspitzte sich dieses Bild und Hora wurde zu mehr. Wir redeten in Gedanken miteinander, nicht mehr nur in Worten. Die Imagination erschuf in mir ein wahnsinniges, irres Abbild dieser Welt, voll von seelenlosen, bestechlichen und drogenabhängigen Menschen. Ein Szenario, wie man es in manchen Katastrophenfilmen zu sehen bekommt. Ich tauchte kaum noch auf aus diesen Imaginationen, es war nicht notwendig. Ein Jahr lang saß ich im leeren Haus meiner Eltern, umgeben von einem Butler und einer Haushälterin und befand mich – bis auf einige wenige Ausnahmen – in dieser irren Welt.«
    »Eine Welt mit Zombies, was?«, unterbrach Tim.
    Der Direktor nickte langsam. »Hora kochte Drogen. Mithilfe der Drogen konnte man die Zombies ruhigstellen, und man konnte die Polizei bestechen. Ist das nicht vollkommen verrückt?« Sein Lachen war alles andere als fröhlich. »Wir dachten, wir müssten durch die Imagination in meine Erinnerungen zurückreisen, um herauszufinden, wann die Welt geworden ist, wie ich sie in der Imagination sah. Hora und ich waren überzeugt, dass wir verantwortlich dafür waren. Können Sie sich das vorstellen? Wissen Sie, was das bedeutet?« Wieder lief ihm eine Träne über die Wange. »Ich habe in der Imagination eine neue erschaffen. Stellen Sie sich vor, Kinder spielen mit Puppen. Diese Puppen wiederum lassen die Kinder ebenfalls mit Puppen spielen. Und mit diesen Puppen stellen sie die reale Welt nach. So ungefähr lief das ab, nur dass ich – als Puppe – um mich herum eine apokalyptische Welt erschaffen hatte. Und eigentlich hätte ich nur die Augen aufmachen müssen.«
    Loki legte den Kopf leicht schief. »Aber das haben Sie nicht getan. Und irgendwann war es dafür zu spät.«
    »Ja. Jetzt weiß ich, wie nah die Gabe der Imagination an den Wahnsinn grenzt. Und es gab nur einen Ausweg aus diesem Wahnsinn: Ich musste mich innerhalb der Imagination erinnern. Das tat ich durch Zufall, als ich in den imaginären Erinnerungen auf den Unfall stieß. Ich erwachte in der ersten Imaginationsschicht – ich nenne Sie jetzt so, damit Sie besser verstehen können – und sah mich Hora gegenüber. Dem fiktiven Hora, natürlich nur eine Wahnvorstellung, eine völlig übertriebene Ausgabe des echten Hora.

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