Die Akte
ihn aufmerksam und sorgte dafür, dass er nicht zu nahe herankam.
Es war schon ein merkwürdiger Anblick, diese Jurastudenten in Kleidern und mit hohen Absätzen beziehungsweise in Anzügen und mit Krawatten. Darby saß in einem dunklen Zimmer im dritten Stock von Newcomb Hall am Fenster und beobachtete die Studenten, die unten herumwanderten, sich leise unterhielten und ihre Zigaretten aufrauchten. Unter ihrem Stuhl lagen vier Zeitungen, bereits gelesen und weggeworfen. Sie war schon seit zwei Stunden dort, hatte gelesen, solange die Sonne schien, und auf den Gottesdienst gewartet. Für sie gab es keinen anderen Platz. Sie zweifelte nicht daran, dass die bösen Buben in den Büschen rund um die Kapelle lauerten, aber sie lernte, geduldig zu sein. Sie war früh gekommen, würde später wieder verschwinden und sich im Schatten halten. Wenn sie sie fanden, dann würden sie es vielleicht schnell tun, und dann war alles vorbei.
Sie griff nach einem zerknüllten Papierhandtuch und trocknete ihre Augen. Jetzt war es in Ordnung, dass sie weinte, aber es musste das letzte Mal sein. Die Leute waren alle drinnen, und der Übertragungswagen fuhr ab. In der Zeitung hatte gestanden, es wäre ein Gedenkgottesdienst, dem später die private Beisetzung folgen sollte. Es war kein Sarg in der Kapelle.
Sie hatte sich diesen Augenblick ausgesucht, um zu verschwinden, einen Wagen zu mieten und nach Baton Rouge zu fahren, dann in die erste Maschine zu steigen, die irgendwohin flog, weg von New Orleans. Sie würde das Land verlassen, vielleicht Montreal oder Calgary. Sie würde dort für ein Jahr untertauchen und hoffen, dass die Verbrechen aufgeklärt und die bösen Buben eingelocht wurden.
Aber es war ein Traum. Der schnellste Weg zur Gerechtigkeit führte schnurstracks über sie. Sie wusste mehr als irgend jemand sonst. Die Fibbies waren nahe daran gewesen, dann hatten sie sich zurückgezogen und jagten jetzt hinter Werweißwem her. Verheek hatte nichts erreicht, dabei stand er dem Direktor nahe. Sie würde das Puzzle selbst zusammensetzen müssen. Ihr kleines Dossier hatte Thomas das Leben gekostet, und jetzt waren sie hinter ihr her. Sie kannte die Identität des Mannes, der hinter den Morden an Rosenberg und Jensen und Callahan steckte, und dieses Wissen isolierte sie.
Plötzlich lehnte sie sich vor. Die Tränen trockneten auf ihren Wangen. Da war er! Der dünne Mann mit dem schmalen Gesicht! Er hatte einen Anzug an und trug eine angemessene Trauermiene zur Schau, während er schnell auf die Kapelle zuging. Er war es! Der Mann, den sie zuletzt im Foyer des Sheraton gesehen hatte. Wann war das gewesen? Donnerstagmorgen. Sie hatte gerade mit Verheek gesprochen, als er dort aufgetaucht war und sich umgesehen hatte.
Er blieb an der Tür stehen, blickte nervös über die Schulter er war wirklich ein Dämlack, sich so zu verraten. Eine Sekunde lang starrte er drei Wagen an, die harmlos auf der Straße parkten, keine fünfzig Meter entfernt. Er öffnete die Tür und verschwand in der Kapelle. Wundervoll. Die Schweine hatten ihn umgebracht, und nun gesellten sie sich zu seiner Familie und seinen Freunden, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.
Ihre Nase berührte die Fensterscheibe. Die Wagen waren zu weit weg, aber sie war sicher, dass auch dort ein Mann war, der nach ihr Ausschau hielt. Bestimmt wussten sie, dass sie nicht so dumm und ihr Herz nicht so gebrochen war, dass sie auftauchen und ihren toten Geliebten betrauern würde. Das wussten sie. Sie war ihnen zweieinhalb Tage entkommen. Die Tränen waren versiegt.
Zehn Minuten später kam der dünne Mann allein wieder heraus, zündete sich eine Zigarette an und schlenderte mit tief in den Taschen vergrabenen Händen auf die drei Wagen zu. Und mit einer Trauermiene. Verdammter Kerl.
Er ging an den Wagen vorbei, blieb aber nicht stehen. Als er außer Sicht war, ging eine Tür auf, und dem mittleren Wagen entstieg ein Mann in einem grünen Tulane-Sweatshirt. Er ging hinter dem Dünnen her die Straße entlang. Er war nicht dünn. Er war klein, untersetzt und kräftig. Ein Stummel.
Er verschwand auf dem Gehsteig hinter dem Dünnen, hinter der Kapelle. Darby lehnte sich so weit vor, dass sie auf der Kante des Klappstuhls saß. Binnen einer Minute kamen sie hinter dem Gebäude wieder zum Vorschein. Jetzt waren sie zusammen und flüsterten etwas, aber nur einen Moment lang; dann trennte sich der Dünne von dem Kräftigen und verschwand die Straße hinunter. Stummel ging schnell zu seinem
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