Die Albenmark: Elfenritter 2 - Roman
gestanden, als Luth Gunnars Lebensfaden durchtrennt habe. Die Elfen hatten ein seidenes Tuch über einen Helm gebettet, der dort lag, wo Gunnars Kopf fehlte, und so verschleierten sie vor dem flüchtigen Betrachter des Leichnams die schreckliche Wahrheit. Doch natürlich wollte Gishild noch einmal in das Antlitz des Toten blicken. Sie war erstaunt, hatte der König doch zu Lebzeiten nie einen Visierhelm getragen. Und als sie dann das stählerne Visier zurückschob und schließlich gar den Helm an sich nahm, da traf sie das, was sie sah, bis ins Innerste.
Nie bin ich einem Weib wie Gishild begegnet. Sie hatte eine Stärke in sich, wie man sie bei den meisten Männern nicht findet. Dreimal nur habe ich sie in ihrem Leben weinen sehen. Das erste Mal war, als ihr Bruder Snorri starb und sie noch ein Kind war. Zum zweiten Mal vergoss sie Tränen am verborgenen Grab ihres Vaters. Beim dritten Mal aber, da war mir selbst das Herz zerrissen. Doch ich greife der Geschichte voraus … Noch ist die Zeit der Tage des Ruhmes.
Auf Gishilds Trauer folgte der Zorn. Und ihr Zorn war wie ein plötzlicher Sommersturm, der in ein Gerstenfeld fährt.
Vilussa traf dieser Zorn, die große Hafenfestung des Ordens vom Aschenbaum, Sitz des Erzverwesers, größter Flottenhafen der westlichen Seenplatte, Winterquartier des Ordensheeres. Es gab ein Dutzend gute Gründe, um diese Stadt einen weiten Bogen zu machen. Die Jarls und selbst die kaltblütigen Elfen redeten auf Gishild ein. Sie aber wollte ein Totenfeuer zu Ehren ihres Vaters, dessen Flammenschein bis zu den Goldenen Hallen zu sehen war. Und sie wollte nichts davon hören, dass es aussichtslos sei, eine starke Festung anzugreifen, in der für jeden unserer Krieger zehn Feinde im Winterquartier lagen. Weil aber das wilde Blut ihres Ahnherrn Mandred stark in ihr war, wollte Gishild all dies nicht gelten lassen. Als keiner ihr folgen mochte, da legte sie allein ihre Rüstung an und ritt auf ihrem Rappen Nordstern in aller Heimlichkeit davon. Es war ein Abend, an dem Nebel wie Geisterodem aus den schwarzen Wäldern trat, dass Gishild vor das Sankt-Michels-Tor der Festung Vilussa ritt. Sie war angetan mit einem weißen Umhang wie eine Ordensritterin. Und sie passierte das Tor, denn sie hielten sie wohl für eine der ihren. Niemand weiß, was Gishild in jener Nacht tat. Sie hat nie darüber geredet. Doch als sie am nächsten Mittag zurückkehrte, stand eine schwarze Rauchwolke über der
Stadt, mächtig wie ein Götterthron. Der Pulverturm der Burg und das Magazin im Hafen waren in Flammen au fgegangen. Siebzehn Schiffe fielen den Verwüstungen zum Opfer. Kein Elf war bei ihr gewesen, wir alle wussten das. Und wenn die Toten von den Goldenen Hallen hinabblicken können in unsere Welt, dann hat Gunnar Eichenarm das Totenfeuer gesehen, das seine Tochter für ihn entfachte.
Von diesem Tag an schien Gishild Frieden geschlossen zu haben mit sich und dem Tod ihres Vaters. Sie hörte jede Stimme im Kriegsrat, bedachte jede Sorge. Wir alle vergaßen, dass sie ein Weib war. Sie führte uns, vom Winter in den Sommer hinein. Von Sieg zu Sieg. Und als wir heimkehrten, nach mehr als acht Monden, da hatte sie dem Fjordland seinen Stolz zurückgegeben. Aber fern der Schlachtfelder besannen sich die Jarls wieder darauf, dass Gishild ein Weib war. Und es begann, was so viel Unglück bringen sollte.
Ich weiß es noch, als sei es erst vor einer Stunde geschehen. Es war, als sich der Tag jährte, an dem Gishild zurückgekehrt war. Und wieder versammelten sich die Jarls des Fjordlands in der Festhalle der Königsburg …
NIEDERGESCHRIEBEN VON RAGNAR ULRIKSON,
BAND 107 DER TEMPELBIBLIOTHEK ZU FIRNSTAYN, S. 223 f f.
DIE ENTSCHEIDUNG DER ANDEREN
»Ich bin die Königin!«, beharrte Gishild ärgerlich.
»Niemand hat dich gekrönt«, erinnerte Roxanne sie. »Du herrschst, doch weil du die Macht an dich gerissen hast, nicht weil sie dir gegeben wurde.«
»Sie wurde mir durch meine Geburt gegeben!«
»Ich will nicht mit dir streiten, Gishild. Aber wenn du Königin sein willst, dann musst du die Seele deines Landes achten, und die Seele sind seine Traditionen. Deine Jarls sind dir weit gefolgt. Sie respektieren dich, manche fürchten dich sogar. Nun ist es an dir, ihnen einen Schritt entgegenzugehen. Lass hinter dir, was immer dich mit Valloncour noch verbindet. Wenn du den Schatten der Vergangenheit nicht entfliehen kannst, dann wird deine Gegenwart immer im Dunkel liegen.«
Gishild dachte kurz darüber
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