Die Albenmark: Elfenritter 2 - Roman
hörte die Schritte ihrer Gefährten hinter sich. Der Regen hatte nachgelassen. Ein kalter, böiger Wind blies von Westen. Mond und Sterne waren hinter Wolken verschwunden.
Die Ritterin zögerte. Diesen Teil des Hafens kannte sie nicht besonders gut. Sie wusste, der Palastturm des Erzverwesers lag im Westen, ein gutes Stück Weg entfernt. Marcilla war eine große Stadt. Selbst wenn sie stramm ausschritten, würden sie mehr als eine halbe Stunde brauchen.
»Dort entlang«, sagte Alvarez.
Lilianne brauchte einen Augenblick, um die Gasse zwischen
zwei turmhohen Kornspeichern zu entdecken. Sie war finster wie der Boden eines Tintenfasses.
Der Kapitän übernahm die Führung. Sie folgten ihm schweigend, begleitet vom Klang ihrer Stiefel und dem leisen Plätschern des Regenwassers.
Kein zweiter Wachtrupp versperrte ihnen den Weg. Bald ließen sie die Lagerhäuser hinter sich. Gluckernd sauste Wasser durch die Gosse, die in der Mitte der schmalen Straßen verlief. Eine schleimige, braune Brühe, die den Unrat davontrug. Rechts und links davon waren schmale, gepflasterte Wege, die jenseits des Hafens von verschlammten Lehmwegen abgelöst wurden.
In den Wind geduckt, kauerten alte Fachwerkhäuser in den Gassen. Die Luft war erfüllt vom Rauch zahlloser Kamine. Es war eine Nacht wie im Herbst. Man mochte kaum glauben, dass bald schon der Tag der Sommersonnenwende käme. So nah war auch der Tag der Erweckungsfeier. Wo jetzt wohl die Schiffe mit den neuen Novizen steckten? Sie musste sie vor der Falle Marcilla bewahren!
Hölzerne Ladenschilder, die an dicken Ketten hingen, bewegten sich klirrend im Wind. Hier und dort, wo Licht aus einem Fenster fiel, konnte man die Wappen sehen, die darauf aufgemalt waren, Embleme der Fleischhauer, Bäcker und Küfer. In schreiend bunten Farben waren sie gestaltet. Doch in dieser Nacht fingen sie kaum einen Blick ein. Nur eine Handvoll geduckter Gestalten kreuzte ihren Weg, die Köpfe zwischen die Schulter gezogen, um Regen und Wind zu entgehen. Selbst die Straßenköter hatten sich verkrochen.
Tjured gab ihr seinen Segen, dachte Lilianne. Diese Nacht war wie geschaffen für ihren Plan.
»Kennst du den Erzverweser?«, fragte Michelle unvermittelt.
»Nicht gut«, gestand Lilianne ein.
»Wie kommst du darauf, dass er uns empfangen wird?«
»Diese Stadt hat ihn reich gemacht. Er wird sie nicht verlieren wollen. Selbst wenn er sich dafür gegen den Orden vom Aschenbaum wenden muss.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, brummte Drustan. Er hielt seinen Arm eng an den Leib gepresst. »Ich friere mir den Arsch ab. Poetischer kann ich das leider nicht sagen.«
»Wenn wir es verderben, stehen wir bald auf dem Scheiterhaufen«, entgegnete Lilianne leichthin. »Wenigstens dieses Übel hat dann ein Ende. Du wirst nicht mit einem kalten Arsch in die Grube fahren.«
Drustan murrte etwas Unverständliches. Dann senkte sich erneut Schweigen über die kleine Gruppe.
Die Ritterin war beunruhigt, dass keine Wachen auf den Straßen patrouillierten. Gewiss, da war das Unwetter … Aber es fühlte sich zu einfach an. Alles ging viel zu glatt. Der Offizier, der sie nicht nur passieren ließ, sondern auch noch Verständnis für sie hatte. Die leeren Straßen … Entweder hatten sie unglaubliches Glück, oder Tjured hatte ihnen den Weg geebnet. Oder doch eher eine irdische Macht.
Ihr unbeirrtes Gottvertrauen hatte Lilianne auf den Schlachtfeldern Drusnas zu Grabe getragen. Voller Sorge spähte sie in jeden dunklen Winkel. Wenn sie jetzt einer Bande Straßenräuber in die Arme liefen und ihr Leben ließen, dann wäre dies das Beste, was den Rittern vom Aschenbaum passieren konnte. Gewiss war ihren Feinden das ebenso klar …
Drustans mürrische Stimmung und Michelles nervöses Schweigen waren Lilianne wohlvertraut. Doch dass auch Alvarez kein Wort sagte, setzte ihr zu. Sie hatte ihn in schier aussichtslosen Schlachten zotige Trinklieder singen
hören, hatte mit ihm heimlich Schmuggelware an Bord gebracht … Sie kannte ihn, davon war sie zutiefst überzeugt. Doch dass er sich so entschieden in Schweigen hüllte, beunruhigte sie. Das war fremd.
Als sie den Palastturm erreichten, hatte der Regen ganz aufgehört. Man sah der Residenz des Erzverwesers noch an, dass sie früher einmal eine Burg gewesen war. Doch genauso deutlich sah man, dass, wer immer dort lebte, schon lange keinen Feind mehr vor seinen Mauern fürchtete. Ein Teil der Burgwälle war niedergerissen. Höfe hatten sich in prächtige Blumengärten
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