Die Albenmark: Elfenritter 2 - Roman
hier? Leon war nicht dumm. Er hatte sich wahrscheinlich gedacht, wohin Gishild wollte. Bestimmt hatte er Lilianne gewarnt.
Verzweifelt versuchte die Prinzessin, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen.
Plötzlich war die Luft erfüllt von Flügelschlagen. Etwas bohrte sich in ihre Schultern, Gefieder streifte ihr Gesicht. Sie schrie erschrocken auf und wollte nach dem unsichtbaren Angreifer schlagen.
Ein schriller Schrei direkt neben ihrem Ohr ließ sie mitten in der Bewegung erstarren. Es war ein Vogelschrei, aber doch ganz anders als jeder Vogelruf, den sie je gehört hatte. Er hatte … Nein, sie fand keine Worte. Da war etwas in diesem Schrei, das sie tief berührte.
Die langen Fänge des Adlerbussards hatten sich in ihre Schulter gebohrt. Der Raubvogel hielt still. Er saß auf ihrer Schulter. Er roch nach Aas und besudeltem Gefieder.
Gishild konnte ihn nicht sehen, es war zu dunkel. Aber mit allen anderen Sinnen fühlte sie ihn. Er war es! »Erkennst du mich wieder, Winterauge?«
Der große Vogel rührte sich nicht.
Er war das Letzte, was sie noch mit ihrer alten Welt verband. Wenn es stimmte, was Leon gesagt hatte, dann hatte sie ihren Thron im Fjordland verloren. Man hielt sie für tot. Das mussten doch Lügen sein! Silwyna wusste, dass sie lebte.
Aber die Elfen durften sie nicht holen kommen, nicht jetzt! Die Zeit war verstrichen … Sie musste hier bleiben und Luc helfen. Ihn beschützen vor Leon und vor sich selbst. Und … sie wollte seine Liebe. Er war alles, was ihr noch geblieben war. Auch ihn noch zu verlieren würde ihr das Herz zerreißen.
»Ich kann hier nicht fort, Winterauge. Du musst zurück. Finde Silwyna. Sag ihr, dass sie nicht kommen darf. Niemand soll kommen! Ich werde hier bleiben. Ich werde eine
Ritterin werden. Aber ich habe das Fjordland nicht vergessen. Ich werde fliehen, wenn Luc nicht mehr in Gefahr ist. Und ich werde mir meinen Thron zurückholen, wenn jemand es wagt, das Erbe meiner Familie an sich zu reißen. Geh zu meiner Mutter! Sag ihr, dass ich lebe. Sag ihr, dass es mir …« Sie stockte. Sie war mitten unter ihren Feinden. Und sie war gezwungen, ihnen näher zu sein, als sie sich jemals hatte vorstellen können. »Sag meiner Mutter, dass alles gut wird. Und wenn du das getan hast, dann komm noch einmal zurück. Und bring mir Nachricht von meinem Vater. Von Mutter … Ich muss wissen, wie es ihnen geht. Ich weiß, Fenryl ist irgendwie in dir, Winterauge. Du verstehst mich doch, nicht wahr. Graf? Aber wie sollst du mir antworten. Ich bin ein dummes Kind.« Sie lachte. »Bitte bring mir Nachricht. So wird es mir leichter fallen, hier auszuharren. Sie bringen Luc um, wenn ich gehe. Ich kann nicht, Fenryl. Ich kann nicht … Aber ich kann es auch nicht ertragen, keine Nachricht zu haben. Bitte komm wieder! Nur ein einziges Mal! Berichte mir, dass Leon mich belogen hat und mein Vater lebt. Berichte mir, dass meine Mutter keinen anderen Mann hat. Ich werde auf dich warten. In jeder Neumondnacht. Auf dem Hügel nahe dem Turm meiner Löwen. Bitte komm zurück, Winterauge!«
Sie trat an das Fenster und öffnete es. »Flieg, Winterauge. Und vergiss mich nicht. Sei frei! Du weißt, wie wir Gefangenen uns fühlen. Bring mir Hoffnung!«
Der große Vogel stieß sich ab. Noch einmal bohrten sich seine Krallen tief in ihr Fleisch. Gishild spürte es kaum. Sie war taub vor Sehnsucht. Leon hatte bestimmt gelogen! Es war unmöglich, dass ihr Vater nicht mehr lebte. Winterauge würde ihr die Gewissheit bringen. Sie würde ein wenig Geduld brauchen. Zwei Monde, vielleicht drei … Graf Fenryl
würde in der Gestalt des Vogels wiederkehren. Vielleicht würde er sogar einen Brief von ihrem Vater bringen.
Gishild musste lächeln. Sie wusste, wie schwer ihrem Vater der Kampf mit Tinte und Feder fiel. Aber er würde es sich nicht nehmen lassen, ihr selbst zu schreiben. Die Vorfreude darauf erfüllte sie mit einem warmen Gefühl. Sie würde es aushalten hier. Und wenn sie und Luc Ritter waren, dann wäre es leichter zu fliehen. Ihr Vater würde Luc bestimmt mögen! Es war ganz unmöglich, ihn nicht zu mögen!
Winterauge war in der Finsternis verschwunden. Die Prinzessin verschloss das Fenster wieder. Bis hierher war alles gut gegangen. Sie hatte Glück gehabt! Und jetzt würde sie die Ritter vor ein Rätsel stellen. Leon und Lilianne würden wissen, dass sie hier gewesen war. Aber sie würde ein frisches Bettlaken stehlen und das alte in den See werfen. Sie würde die Gitterstäbe wieder
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