Die Albenmark: Elfenritter 2 - Roman
Die karge Felslandschaft war mit einer dünnen Schicht Neuschnee überzogen. Der Fürst war erschöpft. Seine Kraft reichte nicht, um sich mit einem Zauber gegen die Kälte zu wappnen. Und seine Grübeleien zehrten noch zusätzlich an ihm.
Es war dumm, sein Weltenbild in Frage zu stellen, eine Erklärung außerhalb der bestehenden Ordnung zu suchen. Wahrscheinlich hatte Skanga einfach einen Fehler bei ihrem
Zauber gemacht. Sie war alt. Den Zenit ihrer Macht hatte sie sicher längst überschritten. Und sie hatte einen Albenstein. Nichts barg so viel Kraft wie diese kostbarsten Geschenke der Alben. Mit zwei Albensteinen konnte man neue Pfade im goldenen Netz ziehen. War es da nicht denkbar, dass ein Beschwörungsfehler – verbunden mit der Macht eines Albensteins – ihn von einer Welt in die andere schleuderte? So musste es gewesen sein! Diese Erklärung stellte die Weltenordnung nicht in Frage. Es gab diesen Tjured nicht! Er existierte nur in den Köpfen der Menschen.
»Es gibt Tjured nicht!«, sagte der Fürst leise, so als mache das gesprochene Wort den Gedanken wahrhaftiger. »Es gibt ihn nicht!«
Ein Totenschädel starrte aus dem Schnee. Der Elf kniete nieder. Es war der Schädel eines Menschen. Der Knochen zeigte Fraßspuren. Tiranu wischte Schnee zur Seite und fand einen zersplitterten Oberschenkelknochen, aus dem das Mark herausgeleckt war. Das Werk von Wölfen oder verwilderten Hunden.
Er blickte zu den Gipfeln auf. Er musste den Ort erreicht haben, den er in seiner Vision gesehen hatte. Die Berge waren schneegekrönte Schattenrisse vor einem samtenen Nachthimmel, an dem Tausende Sterne funkelten. Der Schnee reflektierte das Sternenlicht. Selbst ohne Mond war die Nacht erstaunlich hell.
Es war still in dem Tal. Das Flüstern des Windes in den Felsen war das einzige Geräusch. Hier hatte der Menschling Silwynas Rapier gefunden. Beklommen sah Tiranu sich um. Er war darauf gefasst, dass die Maurawani jeden Augenblick zwischen den Felsen erscheinen mochte, die verstreut im Tal lagen. Er spürte Magie. Schwach nur. Ein Zauber wirkte hier. Ganz nahe. Was verbarg sich hier?
Nicht weit entfernt bot sich ein von Felsen abgeschirmter Platz als Nachtlager an. Tiranu erhob sich. Seine Müdigkeit war vergessen. Wieder blickte er sich um. Hier war niemand. Er würde es spüren, wenn man ihn beobachtete. Er ging den Felsen entgegen.
Zersplitterte Rippen stachen aus dem Schnee. An einem Knochen bemerkte er eine tiefe Kerbe, die von einer Klinge stammen musste. Es hatte einen Kampf gegeben. Und die Sieger hatten sich nicht die Mühe gemacht, die Toten zu bestatten. Die verstreuten Knochen waren das Werk wilder Tiere, die um das Aas gestritten hatten.
Der Wind erstarb. Totenstille lag über dem weiten Tal.
Der Elf trat in den weiten Kreis der Steine. Hier lagen überall Knochen. Er entdeckte die Reste eines Feuers. Einen kleinen Kochtopf, der aus dem Schnee ragte. Rostige Waffen. Stofffetzen. Ein Helm war auf einem Felsblock abgesetzt. Ein kleiner Vorrat an Feuerholz lag an einer windgeschützten Stelle.
Kauerte da eine Gestalt? Tiranu stockte der Atem. Da! Im Schatten eines großen Felsbrockens war jemand!
Seine Hand fuhr zum Rapier. Die Gestalt bewegte sich nicht. Sie trug ein safranfarbenes Kleid voller dunkler Flecken. Blut.
Ganz langsam trat er näher. Es war unmöglich, dass sie ihn nicht kommen gehört hatte. Er erkannte den langen Zopf, der ihr über den Rücken fiel. Die Macht eines geheimnisvollen Zaubers spürte er jetzt so deutlich wie die sanfte Berührung einer liebkosenden Hand.
Silwyna verharrte völlig reglos. Ihr Gesicht war dem Felsen zugewandt. Tiranu zögerte eine Weile, bis er es wagte, sich neben ihr niederzukauern. Schnee lag im Nacken der Elfe. Ihr Haar war voller Eis. Sie war tot. Mit der Linken
stützte sie sich am Felsen ab. Ihre Rechte war zu Boden gesunken. Getrocknetes Blut haftete an ihren Fingern.
Der Fürst betrachtete das blutige Kleid. Eine Kugel hatte sie in den Rücken getroffen. Man konnte sehen, wie stark die Wunde geblutet hatte. Verdammte Bleikugeln! Sie bannten Magie. Es war unmöglich, eine solche Wunde durch einen Zauber zu heilen, solange die Kugel noch im Körper steckte. Silwyna schien versucht zu haben, sie mit den Fingern herauszuholen. Und als sie spürte, wie ihr Lebenslicht verging, hatte sie mit letzter Kraft einen Zauber gewoben, der die wilden Tiere von ihr fernhielt und ihren Leib nicht verfallen ließ.
Seltsam eitel, dachte Tiranu. Das passte nicht zu
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