Die Albertis: Roman (German Edition)
noch mit reingezogen würde.
Eine Stunde später standen sie auf dem Flur des Amtsgerichts und warteten. Dr. Kötter war in einem der Zimmer verschwunden. Nach einer Weile kehrte er zurück. Er brachte eine Neuigkeit mit. Die Polizei hatte noch in der Nacht in der Wohnung von Stivis Eltern eine Durchsuchung vorgenommen, dabei auch dort Ecstasy gefunden und Anuschkas Freund aus dem Bett heraus festgenommen. Stivi hatte bereits zugegeben, mit den Tabletten gehandelt zu haben, und seine Freundin entlastet: Sie habe die Pillen kurz vorher von ihm erhalten, sollte sie für ihn verwahren und hatte nichts mit Drogenhandel zu tun. Paul atmete tief durch. Und auch Anne war ein wenig erleichtert.
In diesem Moment sahen sie Anuschka: Begleitet von einer Beamtin, die Hände in Handschellen gelegt, den Kopf gesenkt, kam sie langsam vom anderen Ende des Flures auf sie zu. Sofort gingen Paul und Anne ihr entgegen. Dr. Kötter legte seine flache schwarze Aktentasche auf eine der Holzbänke, die an der Wand standen und folgte ihnen. Als sie einander erreicht hatten, blieben sie voreinander stehen, Anne ein paar Schritte entfernt von Anuschka und Paul.
«Du machst ja Sachen!», sagte Paul leise. «Mädchen, Mädchen.»
«Es tut mir so Leid!», erwiderte Anuschka kaum hörbar.
«Du und Drogen! Ich kann es nicht glauben!»
Anuschka fing an zu weinen. Sie sah erbärmlich aus. Ihre Kleidung war verschmutzt, ihre Haare strähnig, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, ihr Gesicht war blass.
«Papa ...», brach es aus ihr heraus. Sie wollte ihm um den Hals fallen, aber sie konnte es nicht. Der Kummer schüttelte sie, sie schluchzte. «Nimm mich doch wenigstens in den Arm.» Ihre Stimme versagte. «Bitte ...», flüsterte sie kaum hörbar.
Nun weinte auch Paul. «Kind.» Er schlang seine Arme um sie, er drückte sie fest an sich, er streichelte ihren Kopf, küsste sie auf die Stirn, die Wangen, nahm ihre zusammengeketteten Hände hoch, strich über ihre Finger, als wären sie erfroren und er müsse sie wärmen.
Der Anblick brach Anne fast das Herz. Sie hatte Mitleid mit Anuschka und sie hatte Mitleid mit Paul. So verletzt und so beladen hatte sie ihn noch nie erlebt, nicht einmal in dem Moment, als er ihr damals vom Selbstmord seines Vaters erzählt hatte. Anne sah die beiden Menschen, die ihr so nah waren und gleichzeitig wie Fremde auf sie wirkten, und sie sah die große Ähnlichkeit zwischen ihnen. Plötzlich spürte sie, dass es an ihr gelegen hatte, dass Anuschka ihr bisher so feindselig begegnet war. Ihre Eifersucht auf sein eigen Fleisch und Blut war es gewesen, die sie tagtäglich ausgestrahlt haben musste und die Anuschka zu ihrer Abwehrhaltung bewegt hatte. Es lag an ihr. Alles lag an ihr. Sie hatte es nicht verstanden, die neue Familie zusammenzufügen und zusammenzuhalten, und sie hatte Anuschka ausgegrenzt, ohne Worte und ohne Taten, nur durch ihre Anwesenheit und das, was sie unsichtbar ausgestrahlt hatte. Sie hatte das verlorene Mädchen vertrieben, aus dem Haus, auf die Straße, in die Hände dieses Stivi, der ihr die Drogen zugesteckt hatte.
Aus einer der Türen trat eine unscheinbare junge Frau mit kurzem Pagenkopf und strengem Kostüm. Sie trug einen Aktenordner unter dem Arm und blieb beim Anblick der kleinen Gruppe stehen.
Durch Dr. Kötter ging ein Ruck. «Frau Kollegin!», sagte er servil und tippte Paul auf den Rücken. «Die Frau Richterin ist da!»
«Aha!», sagte die Richterin.
Paul ließ Anuschka los und drehte sich zu der Richterin um
«Sie sind der Vater?», fragte sie.
«Ja.»
«Und Sie sind die Mutter.»
«Sie ist ...», antwortete Paul langsam, aber Anne ließ ihn nicht ausreden.
«Ja!», erwiderte sie und sah Anuschka, die jetzt zu ihr hinüberschaute, fest in die Augen. «Ich bin Anuschkas Mutter.» Einen Moment lang sahen sich die beiden an. Dann hellte sich Anuschkas Gesicht auf. Sie lächelte. Anne schenkte ihr das Lächeln zurück. «Nicht die leibliche», fuhr sie fort, «mein Name ist Annette Alberti. Ich bin die Lebensgefährtin von Dr. Ross. Wir leben zusammen.»
«Aha!», wiederholte die Richterin und hielt den Ordner hoch. «Dies ist die Akte Ihrer ...», sie sah kurz auf den Aktendeckel, «... Ihrer Tochter Anuschka Ross. Nehmen Sie es mir nicht übel, meine Herrschaften, aber ich würde es vorziehen, dass wir die Anhörung ohne Eltern machen. Es ist eine alte Erfahrung, dass die jungen Leute dann freier sprechen können. Wenn ich dann bitten dürfte.» Sie zeigte auf eine der
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