Die Albertis: Roman (German Edition)
Türen.
Dr. Kötter schnappte sich seine Mappe, ging voran, hielt der Richterin und Anuschka, die von der Beamtin geführt wurde, die Tür auf. Dann verschwanden alle vier im Anhörungsraum. Anne und Paul blieben auf dem kalten, langen Behördenflur allein zurück.
Anne holte ein frisch gebügeltes, weißes und mit Schmetterlingen besticktes Taschentuch – eines von den Dutzenden, die ihr ihre Mutter alljährlich zum Geburtstag schenkte – aus der Tasche ihrer Jeans und gab es Paul. Er schnäuzte sich, wischte sich die Augen trocken.
«Fängt man doch tatsächlich an zu heulen, in meinem Alter!», meinte er.
Anne entgegnete nichts darauf, sah ihn nur zärtlich an.
Drei Stunden später war der Spuk vorbei, sie hatten Anuschka gleich mitnehmen dürfen. Es stellte sich heraus, dass Stivi tatsächlich die ganze Schuld auf sich genommen hatte und es keinen juristischen Grund mehr gab, Anuschka festzuhalten, zumal Dr. Kötter bei der Anhörung alle platt geredet hatte.
«Seien Sie froh», hatte ihr die Richterin noch mit auf den Weg gegeben, «dass Sie so tolle Eltern haben, die gleich einen erstklassigen Anwalt organisieren und hier aufkreuzen und Ihnen zur Seite stehen. Bei den meisten Jugendlichen in einer solchen Situation kümmert sich kein Schwein darum.»
So war es auch mit Stivi. Seine Eltern ließen sich nicht blicken. Stivi war nach Sicht der Lage verhaftet worden. Man hatte ihn sofort nach seiner Anhörung ins Gefängnis nach Neumünster gebracht, in der es auch eine Jugendabteilung gab. Es gab wenig Hoffnung, dass er da schnell wieder herauskommen würde.
Krisen und Katastrophen bringen ein Phänomen mit sich, das belegt, dass jedes Ding zwei Seiten hat und nichts so schlecht ist, dass es nicht auch gut wäre: Es eint die Menschen. Unglück schweißt zusammen. Kummer schlägt Brücken. Gemeinsame Sorgen heben. Und so kam es, dass erst Anuschkas Festnahme dazu führte, aus zwei Familien endlich eine zu machen.
Frau Merk und Luis standen in der Küche, als die Haustür aufgeschlossen wurde und Anuschka in Begleitung von ihrem Vater und Anne erschien. Luis knallte die Flasche auf den Küchentisch und stürmte sofort auf die Ankömmlinge zu. Frau Merk wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und folgte ihm.
Er nahm Anuschkas Hand, als könne man auf diese Weise einen Funkkontakt herstellen, und bedrängte sie mit Fragen, ohne Antworten abzuwarten: «Haben sie dir Handschellen angelegt? Und Fußschellen mit Eisenkugeln? Hast du Wassersuppe gekriegt? Aus'm Blechnapf? Wo schläft man denn im Gefängnis? Auf dem Fußboden? Was waren da noch für Leute? Auch Männer? Mörder? Haben sie dich bedroht? Wurdest du geschlagen? Musst du wieder rein? Wann ist der Prozess?»
«Luis!», ermahnte ihn seine Mutter streng. «Das ist jetzt nicht der Augenblick!»
Frau Merk tätschelte der müden Anuschka die Wange: «Armes Ding! Was machst du auch für Sachen!»
«Geil!», meinte Luis. «Gefängnis. Ich würde das gerne mal von innen sehen.»
«Lieber nicht!», sagte Anuschka.
Nun sprach Paul ein Machtwort: «Luis, jetzt ist Schluss mit deinem Geplapper. Anuschka muss zu Bett. Sich richtig ausschlafen.» Dann wandte er sich an Anne. «Ich bin in der Praxis.» Er legte seinen Schlüssel auf das Beistelltischchen. «Ich sehe nachher nach dir, ich möchte dich auch gerne kurz untersuchen, Anuschka!»
«Untersuchen, wozu das denn?»
«Kann ich irgendetwas tun, Herr Doktor?», fragte Frau Merk.
«Haben Sie schon gekocht?», wollte Anne wissen.
«Ja. Gemüsesuppe.»
«Willst du vorher eine Tasse, bevor du schläfst?», erkundigte sich Anne.
Anuschka schüttelte den Kopf.
«Gut. Dann leg dich hin. Wir sehen uns später, Paul. Frau Merk, Sie können bitte den Tisch decken. Luis, hol Edward runter. Wir essen in zehn Minuten.»
Die Gruppe löste sich auf, jeder tat, was er zu tun hatte. Anne war wild entschlossen, endlich die Regie zu übernehmen. Sie folgte Frau Merk in die Küche.
«Hören Sie, Frau Merk: Ich möchte Sie herzlich bitten, diese ... diese Vorkommnisse nicht in der Stadt herumzuerzählen.»
Frau Merk, die auf einen Tritt geklettert war, um die große Suppenterrine vom Hängebord zu nehmen, guckte empört zu Anne hinab, die Löffel und Sets zusammensammelte.
«Wie kommen Sie darauf?», entgegnete sie scharf und kam mit der Terrine wieder von der kleinen Leiter herunter. «Dass ich Sachen herumerzähle.»
«Na ja, es wäre ja nicht das erste Mal, dass sie zu Frau Johanssen gehen und Interna
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