Die Albertis: Roman (German Edition)
zu beschimpfen? Das ist ein Gang nach Canossa, und das bringt überhaupt nichts, ob das nun erwartet wird oder nicht. Damit wird Stivi auch nicht wieder lebendig.»
«Ja, aber ich will es so.»
Damit war der Fall für sie erledigt.
Am Morgen jenes Tages – weder sie noch Pavel hatten schlafen können – brachte sie ihm Tee ans Bett, den Frau Merk, die wie verwandelt war nach ihrem Gespräch, gekocht hatte. Essen mochte er nichts. Am Vorabend hatte sie es übernommen, Stivis Mutter anzurufen, ihr am Telefon ihr Mitgefühl auszudrücken und für elf Uhr einen Termin auszumachen.
Pünktlich kamen sie an. Pavel war kreidebleich. Sie betraten das Hochhaus, stiegen in den Fahrstuhl, dessen Aluminumwände von oben bis unten mit Farbe besprüht waren, und drückten den Knopf zum 5. Stock.
Pavel brach der kalte Schweiß aus. «Mama! Müssen wir das wirklich machen?»
«Du hilfst ihnen damit. Und dir auch. Glaub mir einfach.»
Auf dem Weg dorthin hatten sie bei einem Blumenladen angehalten und einen Strauß weißer Nelken gekauft. Sie gab ihn Pavel, als der Lift hielt. Doch er gab ihn ihr wortlos zurück.
Sie brauchten nicht nach der Wohnung zu suchen. Sie lag dem Fahrstuhl direkt gegenüber. Einen Augenblick lang standen die beiden nebeneinander so da, ohne sich anzusehen, dann drückte Anne den Klingelknopf. Es war ein grelles, hartes Klingeln, und es dauerte eine Weile, bis aufgeschlossen wurde. Dann öffnete sich die Tür, und Stivis Vater stand ihnen gegenüber. Er war ein gut aussehender Mann, kaum älter als Anne, groß und hager, sein Gesicht war das eines freundlichen Menschen, dem das Leben viel zu früh Falten in die Haut gegraben hatte, er trug einen Bürstenhaarschnitt, was ihm fast etwas Militärisches gab, er hatte Jeans und ein schwarzes Hemd an, man sah, dass er Stivis Vater war. Anne ertappte sich bei dem Gedanken, so hätte der Junge später vielleicht einmal ausgesehen ...
«Ich bin Annette Alberti. Und das ist mein Sohn Pavel.»
Pavel sagte nichts. Er nickte nur.
«Kommen Sie herein.»
Anne wusste nicht genau, was sie erwartet hatte. Sie wurde überrascht. Ein feiner, edler Parfümgeruch, der von einer sanft brennenden Duftkerze auf der Flurkommode herrührte, zog durch die Räume. Alles wirkte so aufgeräumt und sauber, als erwarte man die Besichtigung eines Nachmieters. In einer Bodenvase neben einem gelb lackierten Ikea-Tischchen stand ein Strauß Lilien. Ihr süßer, schwerer Duft mischte sich betäubend mit dem der Kerze. Stivis Vater ging voraus ins Wohnzimmer. Als Anne eintrat, sah sie als Erstes auf dem Sofatisch den Bilderrahmen mit einem Foto des Jungen, über dessen linke Ecke ein breites schwarzes Band gelegt worden war, und daneben zwei Friedhofslichter, die flackernd brannten. Auf dem Sofa saßen nebeneinander Stivis Mutter, ganz in Schwarz, die Schwester und Rolli, der Bruder. Die Kinder guckten betreten zu Boden, die Mutter sah die Besucher an. Sie war eine zarte Frau, an der alles müde aussah: die Haare, die Haut, vor allem die Augen. Sie war jünger als Anne, doch sie wirkte älter, unendlich viel älter. Anne überreichte die Blumen, die Stivis Mutter achtlos beiseite legte, sprach ihr das Beileid aus und schob Pavel sanft nach vorne, der stotternd ein paar Worte des Mitgefühls hervorbrachte. Der Vater bat sie, Platz zu nehmen auf den beiden Sesseln links und rechts des Sofas. Dann ging er hinaus. Während seiner Abwesenheit wurde nichts gesprochen. Anne fühlte sich wie gelähmt. Er kam zurück, mit einem Tablett, auf dem Tassen und Teller, eine Kanne mit Kaffee, Zucker, eine Flasche Kondensmilch und ein Schälchen mit Keksen standen. Ruhig verteilte er alles auf dem Tisch, schenkte, nachdem er gefragt hatte, ob Anne und Pavel auch etwas mögen, den Kaffee ein, zog sich einen Stoffhocker heran und setzte sich ebenfalls.
«Ja», sagte der Vater. «Jaja.»
Stille. Man konnte nur sein Schlürfen hören. Die Mutter rührte den Kaffee nicht an. Sie bewegte sich überhaupt nicht. Abwechselnd sah sie Anne und Pavel an.
«Was können wir sagen?», begann Anne. «Es ist ein großes Unglück. Für uns alle, glauben Sie mir. Besonders für Sie. Ich mochte Stivi. Er war ein guter Junge.»
Sie hörte sich das selber sagen, als säße sie neben sich, sie spürte in diesem Augenblick, wie fremd sie sich war, wie fremd die Situation ihr war, sie merkte, dass alle Worte vergebens waren, und sie suchte, als wäre ihr Gehirn das Internet, nach dem richtigen Satz. Sie fühlte das
Weitere Kostenlose Bücher