Die Albertis: Roman (German Edition)
Papierserviette eine Ameise, die eine brennende Kerze hielt.
«Rede weiter!», bat Pavel.
«Na ja, der Satz ist albern. Aber in jedem Klischee und in jeder Verallgemeinerung steckt doch ein Kern von Wahrheit. Bei mir war es Brigitte, die Krankenschwester. Sie ist jünger als ich. Aber sie hat doppelt so viel Kraft. Insgeheim hatte sie sich wohl v0n Anfang an vorgenommen, mich da wieder rauszuholen. Als ich im Krankenhaus lag, hat sie jede Stunde nach mir geguckt, sich die ganze Nacht über mit mir unterhalten. Sie hat mir gut getan. Als ich wieder raus war und zur Kur ging, tauchte sie eines Tages – es war ein Wochenende – dort auf. Wir sind spazieren gegangen. Und du weißt, wie ich das hasse. Sie machte mich auf Dinge aufmerksam, die ich vorher nie beachtet hatte, ich als Zeichner, der doch eigentlich ein Auge haben sollte! Blumen am Wegesrand, der Geruch im Wald, das Geräusch, das der Regen macht, wenn er gegen die Fenster trommelt. Ein Stück Treibholz im Bach. Die vorbeiziehenden Wolken. Ein erfrischender Windhauch. Das Lächeln eines Fremden, mitten in der Stadt, der vielleicht genauso denkt wie du. Oder genauso einsam ist ...»
«Seid ihr noch, ich meine ...»
Wolf nickte. «Wir sind befreundet. Wir werden zusammenziehen.» Ameise kritzelte er auf das Papier, und Lichtlein, und zeichnete je einen Pfeil, der darauf hinzeigte.
«Aber das wusste ich ja nicht.»
«Na, wann haben wir denn das letzte Mal richtig miteinander geredet? Ich wollte sie dir dieses Wochenende vorstellen. Aber das können wir noch jederzeit nachholen, was? Ich finde sowieso, das ist nicht gut, dass meine Herren Söhne und ich uns so aus den Augen verloren haben. Wir sollten mal wieder wie früher ...» Er nahm Pavels Hand.
«Ja, Papa.»
«... was gemeinsam unternehmen. Ich habe dich lieb, mein Pavelotzki. Ich hab das nie gesagt ... zu euch ... vielleicht auch zu wenig zu deiner Mutter. Aber es ist so. Ich liebe euch!»
Danach hatten sie sich voneinander verabschiedet, draußen in der Fußgängerzone, wo Sommermenschen schlenderten und man den Eindruck hatte, alle seien glücklich.
Wolf hatte Pavel den Zeigefinger unter das Kinn gelegt und den Kopf hoch gedrückt, zärtlich. «Guck nicht nur in dich selber rein. Sieh auch die anderen an. Denk an Anuschka, wie es ihr wohl geht.»
«Ich weiß. Sie verlässt ihr Zimmer nicht mehr. Niemand kommt an sie heran. Alle machen sich Sorgen.»
«Hilf ihr. Sei ihr ... Lichtlein!» Er schenkte ihm die bemalte Serviette. Dann umarmte er seinen Sohn, gab ihm einen Kuss und verschwand im Getümmel der Leute.
Zu Hause angekommen (Anne und Paul lagen im Garten auf Liegen und ruhten sich aus), ging Pavel unbemerkt ins Badezimmer, ließ die Wanne voll mit Wasser laufen, goss Badeöl dazu, zog sich aus und legte sich hinein. Er schloss die Augen und dachte darüber nach, was sein Vater ihm gesagt hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sein Vater jemals so viel am Stück geredet hatte oder so offen und herzlich gewesen war. Stimmte es am Ende gar nicht, was seine Mutter immer behauptete, nämlich dass Wolf ein Autist sei, lieb- und gedankenlos? Hatte er ihn die ganze Zeit über falsch gesehen? Er dachte auf einmal, dass er einen Klasse-Vater hatte, er fand ihn stark. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er das so. Das Gespräch war für ihn wie Schmieröl im Getriebe seiner Seele gewesen, er spürte sich wieder, er fühlte, dass er jemand war, ein lebendiger Mensch, ein junger Mann, der alles noch vor sich hatte.
Die Tür ging auf und Edward kam herein. Er trug eine Bermuda und ein dunkelblaues Poloshirt und lief barfuß über die Fliesen. «Hi!», sagte er. «Alles okay?» Er benutzte die Toilette, dann drückte er den Knopf des Spülkastens, ging ans Waschbecken und wusch sich die Hände. Dabei betrachtete er sich zufrieden im Spiegel. Pavel beobachtete ihn.
«Alles bingobotscho?» Edward setzte sich auf den Badewannenrand.
«Ich hab Papa getroffen.»
«Ich weiß, hat Anne mir erzählt. Und? Wie war's?» «Schöne Grüße.»
Edward tauchte seine Hände in das Wasser: «Ey! Das ist ja ganz kalt.»
«Ich mag's so.» Pavel tauchte unter, kam prustend wieder hoch. Er strich sich die Haare glatt.
«Gehst du nächste Woche wieder arbeiten?»
«Hmmm.» Pavel spritzte seinen Bruder ein wenig nass. «Und du? Gehst du irgendwann mal arbeiten?»
«Jetzt fang du auch noch an. Ich hab mich jetzt für München entschieden. Studium und so.»
«Nicht mehr Dayton, Ohio?»
Edward
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