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Die Albertis: Roman (German Edition)

Die Albertis: Roman (German Edition)

Titel: Die Albertis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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Richtige. Aber es zu formulieren, war ihr unmöglich. Wo lernt man das, dachte sie, mit so etwas umzugehen? Kurz guckte sie zur Seite, zu ihrem Sohn. Jetzt tat er ihr besonders Leid. Was hatte sie da nur von ihm gefordert mit ihrem übersteigerten Gerechtigkeitssinn? Wahrscheinlich hatte Paul Recht gehabt, es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen; einen Brief zu schreiben, wäre besser gewesen.
    Stivis Mutter richtete sich an Pavel: «Warum müsst ihr immer so rasen?»
    «Ich habe nicht damit gerechnet ... dass um diese Zeit da jemand kommt ... ich wusste ja nicht ...»
    «Jemand», wiederholte der Vater. «Er war mein Sohn.»
    «Stivi!», sagte die Tochter.
    Die Mutter fing an zu weinen. Nun brach auch Stivis Vater in Tränen aus. Schließlich weinten auch die Kinder. Selbst Anne konnte sich nicht mehr zurückhalten. Allein Pavel saß da, ohne das Gesicht zu verziehen, versteinert. Mögen und Unvermögen, Trauer und Schuld verspann sich zu einem dichten Netz, das sich über den Raum legte und über die Gruppe von Menschen, und Anne fühlte sich auf einmal mit Stivis Eltern verbunden, und sie nahm ihr Taschentuch heraus und gab es der Mutter, die sich schnäuzte, und, nachdem sie aufgehört hatte zu weinen, Anne fast dankbar ansah und das Taschentuch zurückgeben wollte, aber Anne sagte, sie möge es behalten.
    Eine halbe Stunde, die allen wie eine Ewigkeit vorkam, blieben sie noch, dann gingen sie, wiederum ohne viel Worte zu machen.
    Am Tag darauf sah Anne sie wieder, auf der Beerdigung, wohin sie und Paul die völlig aufgelöste Anuschka begleiteten. Anne hatte sich vorgenommen, gefasst zu bleiben. Doch dann gab es zwei Situationen, in denen ihr das nicht mehr gelang. Ungerecht, das Leben: Die Sonne strahlte, als die Trauerfeier in der überfüllten Kapelle des städtischen Friedhofs beendet war und die Trauergemeinde herausströmte. Die Klassenkameraden bildeten eine Gasse. Stivis Freunde Sönke, Glocke, Tom und Samir trugen den Sarg aus Eichenholz, der mit Lilien geschmückt war, hindurch. Und da stand dieses Mädchen, links, in der ersten Reihe, richtete sich auf und begann zu klatschen, und auf der anderen Seite taten daraufhin drei Schüler dasselbe, und nun klatschten hinter ihnen die Lehrer in die Hände, und immer mehr Menschen stimmten in den Beifall mit ein, und es war wie das Rauschen der Blätter in einem Hain von Bäumen, und auf einmal klatschten alle, die da waren, um Stivi auf seinem letzten großen Weg zu begleiten, in die Hände, und ein großer Abschiedsapplaus sagte diesem jungen Menschen, der es ja doch nicht mehr hören konnte: Dich haben wir gemocht, wir liebten dich.
    Am Grab schließlich, in das der Sarg versenkt wurde, sprach der Pastor einige Worte, und dann trat jeder einzeln vor und warf mit der Hand oder einer Handschaufel, die auf dem Hügel lag, Erdkrumen hinunter. Das Geräusch, wenn die Erde auf das Holz schlägt, war für Anne eines der fürchterlichsten, und sie sah auch Paul an, wie er jedes Mal innerlich zusammenzuckte, weil er sich daran erinnerte, wie er damals seinen Vater zu Grabe getragen hatte.
    Als Anuschka dann an der Reihe war, ging sie tapfer nach vorne, nahm etwas Erde, beugte sich ein wenig v0r und warf sie nicht ins Grab, sondern ließ sie hineinrieseln, so sanft und so leise wie möglich. Dann zog sie, und da weinte Anne ein zweites Mal bei dieser Beerdigung, einen Brief aus einer der beiden Taschen ihres schwarzen Seidenkleides und ließ ihn vorsichtig hinuntergleiten, letzte Worte, die sie nicht mehr hatte sagen, sondern nur noch schreiben können.
    Am Leichenschmaus nahmen Anne und Paul nicht mehr teil. Sie legte sich sofort ins Bett, zog die Vorhänge zu und wollte niemanden mehr sehen. Auch Anuschka war mit nach Hause gekommen und zurück in ihr Zimmer gegangen, wie es immer ihre Art war, wenn sie litt, und wie sie es schon die Tage zuvor getan hatte und in den folgenden Tagen tat. Sie ließ niemanden zu sich, nicht einmal Paul. Frau Merk musste ihr die Mahlzeiten auf einem Tablett vor die Tür stellen. Nur nachts oder wenn tagsüber niemand draußen im Flur war, kam sie herausgehuscht, um ins Bad zu gehen. Laura malte ihr ein Bild, und Luis legte ihr ein Pokémon- Spiel vor die Tür.
    Eine ganze Woche ging das nun schon so seit der Beerdigung. Paul machte sich Sorgen. Doch Anne beruhigte ihn, man müsse sie nur in Ruhe lassen, es sei verständlich, dass sie sich von allen und allem abschirmen würde, in ihrem grenzenlosen Kummer.
    Pavel und Anuschka

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