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Die Albertis: Roman (German Edition)

Die Albertis: Roman (German Edition)

Titel: Die Albertis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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hatten seit der Schreierei in seinem Zimmer nicht mehr miteinander gesprochen, sich nicht mehr gesehen. Seinem Vater erzählte er davon, als sie sich wie verabredet trafen. Wolf hatte den Vorschlag gemacht, dass nicht sein Sohn ihn besuchen solle (schließlich hatte er keinen Führerschein mehr), sondern er stattdessen nach Ahrensburg kommen wolle. Er lehnte es allerdings strikt ab, in Pauls Haus zu kommen. Nie wieder wollte er seinem früheren Freund begegnen. Also sahen sie sich in einer Eisdiele, die Pavel und seine Brüder durch die Ross-Töchter kannten. Pavel war noch immer von Paul krankgeschrieben, doch er musste zum Glück seine Halskrause nicht mehr tragen. Körperlich ging es ihm wieder gut, doch seelisch fühlte er sich wie zerschmettert.
    «Ich gucke den ganzen Tag Fernsehen, um mich abzulenken, manchmal kommen Kumpels vorbei, es ist echt pervers, Papa, jedes Mal wenn einer irgendwie das Wort Unfall sagt, irgendwie Friedhof oder Grab, ach, bloß: Auto kaputt, der braucht nur so 'n Stichwort zu sagen, dann muss ich an diesen Moment denken, weißt du, dann kommt alles wieder hoch und ich habe die ganze Nacht Albträume.» Pavel nippte nur an einer Cola, er mochte keine Eiscreme wie sein Vater, hatte keinen Appetit, aß wenig in diesen Tagen. «Irgendwann kommt der Prozess, klar, dann bin ich dran, aber dieser Dr. Kötter sagt, ich komme mit Bewährung davon oder 'ner Geldstrafe oder irgendwas Sozialem, was ich tun muss. Aber das ist alles ganz gleich: Es steckt in mir, und es wird immer in mir stecken, wie ein Virus, ich werde damit leben müssen, dass ich einen Menschen totgefahren habe. Aber ich weiß noch nicht, ob ich es kann.»
    Wolf drehte den halb vollen Glasbecher mit Eiskugeln, Früchten, Sahne, gerösteten Nusssplittern, Papierschirm und Waffel so, dass der Rand des Tellers, auf dem er stand, millimetergenau mit der Tischkante abschloss. «Weißt du, Junge: Als ich damals erfuhr, Monate ist es jetzt her, dass deine Mutter mit Paul, diese ganze Geschichte ... Monate: und erst heute kann ich wirklich darüber reden ... es war ein solcher Schock, es hat mir so den Boden unter den Füßen weggerissen, alles, wofür ich glaubte zu leben, alles, was ich mir aufgebaut hatte: war plötzlich futsch. Es war ein solcher Schmerz! Ich dachte, ich überlebe es nicht. Ich dachte: gut, wenn du es nicht überlebst. Denn wozu noch weitermachen? Du liebst deine Frau und sie liebt einen anderen und verlässt dich. Du liebst deine Kinder: sie werden dir genommen. Mein vertrautes Umfeld: futsch. Und vergiss nicht: ich habe auch einen Freund – ich dachte zumindest, er sei mein Freund – verloren. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben, und das mit vierzig, die besten Jahre eines Mannes, sagt man doch, völlig ohne Halt, völlig allein. Das Unterste war nach oben gekehrt, das Innerste nach außen. Ich habe zu deiner Mutter gesagt: dass ich die Tabletten genommen habe, in der Nacht, das war nur, weil ich besoffen war, eine Kurzschlusshandlung. Das glaubt sie noch heute. Aber das stimmt nicht. Ich habe noch wochenlang mit mir gerungen, es wieder zu tun. Und dann ... jetzt kommt was total Kitschiges, denkst du vielleicht, was Spießiges, wirst du meinen, etwas völlig Altmodisches, ein Spruch. Deine Großeltern, ihr wart noch gar nicht auf Welt und ich war selber erst sechzehn Jahre alt, als es passierte, sie sind doch damals nach Hause gefahren, also dahin, wo mein Vater herkam, nach Montemerano, zwischen Mailand und Rom, auf halber Strecke, in der Maremma, wo alles so schön und heiter und italienisch ist, und mit ihrem Volkswagen, auf den mein Vater so stolz war, der Alte!, beide tödlich verunglückt. Seit deinem Unfall nun denke ich oft an sie und daran, was meine Mutter oft sagte, sie war so typisch deutsch, weißt du, mit ihrer Disziplin und Strenge und ihren Sprüchen: Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her.» Wolf hielt inne. Sie hatten sich extra nicht nach draußen gesetzt, weil es ihnen zu unruhig war. Nun stürzte eine tobende Gruppe Jugendlicher herein, die sich neben ihnen breit machte. Sie lachten und alberten herum, fläzten sich auf die rotledernen Sitzbänke, kippelten mit den Plastikstühlen, bewarfen sich mit den Resten von Eiswaffeln, die Jungs machten die Mädchen an und die Mädchen ließen es sich kichernd gefallen. Wolf sah zu ihnen hinüber, dann zog er aus der Brusttasche seiner Lederjacke einen Kugelschreiber und malte mit schnellen Strichen auf die weiße

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