Die Albertis: Roman (German Edition)
schüttelte den Kopf. Er stand wieder auf. «Ich muss dann mal. Bin mit Colleen verabredet.» Er ging zur Tür.
«Edward?»
«Ja?»
«Was soll ich mit Anuschka machen?»
Edward drehte sich um. «Mit Anuschka?»
«Sie hat mich so fertig gemacht. Sie hat mich als Mörder beschimpft. Ich sollte sie hassen. Aber ich glaube es reicht schon, dass sie mich hasst. Sie tut mir Leid. Ich möchte mit ihr reden. Bloß ... sie lässt ja niemanden zu sich. Ich habe vorhin an ihre Zimmertür geklopft, sie macht nicht auf.»
«Try harder!»
«Hab sogar schon einen Brief geschrieben, liegt auf meinem Schreibtisch. Aber ...»
Edward unterbrach ihn: «Weißt du was? Ich habe eine Idee.» Er verließ das Bad, kam ein paar Minuten später wieder und gab seinem Bruder ein Handy.
«Was soll ich denn mit deinem Handy?», fragte Pavel.
«Ruf sie an.»
«Sie anrufen? Bist du doof?»
«Lass sie entscheiden: ob sie auflegen oder ob sie mit dir reden will.»
Pavel lachte auf: «Von hier aus? Über den Flur rüber? Zu ihr ins Zimmer? Telefonieren?»
«Am Telefon sagt sich manches leichter, is doch so, oder?» Edward machte die Tür auf. «Denk dran: die rechnen sekundengenau ab. Und ich nehme zehn Prozent Aufschlag.»
Mein Bruder, mein großer Bruder, dachte Pavel, ist echt in Ordnung, unser Schlauköpfchen. «Danke Edward.»
«Gern geschehen, Wurstnase.» Weg war er.
Pavel war wieder allein. Er starrte auf das Handy. Sollte er das tun, Anuschka anrufen? War das nicht fürchterlich albern? Aber was konnte schon groß passieren? Sie würde einfach das Gespräch mit einem Knopfdruck beenden, fertig. Wenigstens hätte er dann seinen guten Willen gezeigt und einen Versuch gestartet. Okay, dachte er, ich mache es. Wie war ihre Nummer? Er wusste sie nicht. Pavel drückte die Taste Namen, das Wort Suchen wurde geschwärzt, er drückte auf Wählen, ein leeres Feld erschien, in das er die Anfangsbuchstaben a-n-u eingab und mit OK bestätigte. Ihr Name erschien, und nun drückte er zweimal hintereinander die Symboltaste mit dem grünen Telefonhörer. Er las Rufaufbau und hielt sich das Handy ans Ohr. Pavel hörte es klingeln, einmal, zweimal, dreimal ... sie ging nicht ran.
KAPITEL 14
Pauls Söhne
Mit angezogenen Beinen saß Anuschka in einem Sessel am Fenster. Sie hatte die Gardinen zugezogen, sie starrte auf den Stoff, der nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war, schien seine Muster und Strukturen zu studieren. Ihr Handy, das auf dem Nachttisch lag, klingelte nun schon zum vierten Mal. Sie wollte nicht rangehen. Selbst wenn es einer ihrer Freundinnen gewesen wäre, die in den letzten Tagen ab und zu angerufen und sich nach ihr erkundigt hatten: Mit niemandem, niemandem, niemandem auf der Welt wollte sie mehr sprechen. Nur wenn es Stivi gewesen wäre ... Über diesen nie gekannten Schmerz in ihr, der sie morgens weckte und schwer sein ließ, so schwer, dass sie sich nicht einmal mehr bewegen wollte, und der blieb bis in die Nacht, bis sie endlich einschlafen konnte. Über ihre Träume, die schönen, die von ihr und Stivi handelten, wie sie noch glücklich und fröhlich und unbeschwert gewesen waren, und die ihr, wenn sie aufwachte davon, wie Albträume vorkamen.
Sanft strich sie über die linke Armlehne, immer und immer wieder. Das Handy hörte nicht auf zu klingeln. Anuschka seufzte und stand auf und ging ans Bett. Sie trug einen Jogginganzug, der ihr viel zu weit war. Sie ließ sich aufs Bett plumpsen und nahm das Handy hoch und guckte drauf, und dann endlich nahm sie das Gespräch an.
«Ja?», fragte sie leise und flüchtig.
«Hier ist Pavel.»
Sie antwortete nicht und guckte wieder zur Gardine hinüber, als wäre es ein Ziel am Ende einer langen, dunklen Reise, an dem sie Licht empfangen würde und Glück und Heiterkeit.
«Anuschka?» Er sprach sehr leise und bedrückt, er flüsterte fast. «Bist du noch dran?»
Wieder sagte sie nichts.
«Ich wollte mit dir reden. Ich habe an deine Zimmertür geklopft, aber du hast nicht reagiert. Ich weiß nicht, wie ich anders an dich herankommen soll, deswegen habe ich dich angerufen, Edward hatte die Idee.» Er machte eine Pause. Er dachte nach. Eine Antwort erwartete er nicht. «Du denkst: Niemand weiß, wie du leidest, niemand kennt deine Gefühle und deinen Schmerz. Du denkst: Die ganze Welt ist schlecht und das Leben ist furchtbar. Du denkst: Ich bin ein Schwein, ein Mörder. Aber du irrst dich. Nicht jeder weiß, wie du leidest, nicht jeder kennt deine Gefühle und
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