Die Albertis: Roman (German Edition)
deinen Schmerz, das stimmt. Aber manche eben doch. Dein Vater zum Beispiel. Und ich. Ich auch, ja.»
Anuschka legte den Hörer vom rechten an das linke Ohr, während Pavel weiter sprach.
«Vieles auf der Welt ist schlecht, ja, und irgendwie scheinen wir heute schneller erwachsen zu werden als unsere Eltern, und wir raffen das schneller und sind nicht mehr so naiv, und ich weiß nicht, ob das gut ist, aber es ist ehrlich, verstehst du? Verstehst du?»
Anuschka legte sich aufs Bett, unbewegt blieb sie so liegen, mit dem Blick zur Decke, und hörte zu.
«Weißt du, Anuschka, ich war dabei, als es passierte ...» Seine Stimme stockte, er machte eine lange Pause. «... ich war als Einziger dabei, ich und Stivi. Er wäre mein Zeuge, lebte er noch: Ich habe das nicht gewollt, ich habe nur eine Sekunde lang mein Auto auf die falsche Seite gelenkt, um eine Kurve schneller zu nehmen, und irgendetwas, nenn es das Schicksal oder Gott, was weiß ich, irgendetwas hat ihn und mich zum selben Zeitpunkt da sein lassen, und dann gab es kein Zurück mehr.» Wieder machte er eine Pause, sie konnte ihn atmen hören. «Wenn ich es doch ungeschehen machen könnte, wenn ich doch die Zeit zurückdrehen könnte, aber ich kann das nicht. Ich bin ein blöder, verdammter achtzehnjähriger Junge, und du bist sechzehn, und irgendwie, Scheiße, müssen wir damit klarkommen, was passiert ist. Beide. Zusammen.»
Sie schloss die Augen.
«Hörst du mir zu?», fragte er jetzt.
Wieder nur Schweigen.
«Ich glaub, es läuft darauf hinaus ... dass wir eine Familie werden, weißt du? Ich glaub, wir können uns nicht dagegen wehren. Ich will, dass du das begreifst, ich will, dass du das auch akzeptieren kannst. Dann könnte man nämlich sagen, dass ich dein ... dein Bruder bin. Und du meine Schwester. Wir sollten zusammenhalten. Wenn du es willst: dann bin ich immer für dich da, von nun an. Anuschka?»
«Ja?»
«Ich mag dich.»
Sie antwortete leise, so, als wolle sie den Zauber des Gesprächs nicht zerstören, als fürchte sie, wenn sie zu laut spräche, würde Pavel auflegen. «Ich bin so unglücklich, Pavel.»
«Ich auch.»
Sie drehte sich auf die Seite, zog ihre Beine an, presste das Handy ganz dicht an ihr Ohr. «Es tut mir Leid.»
«Was tut dir Leid?»
«Ich bin auch deshalb auf meinem Zimmer geblieben, die ganzen Tage über, weil ich mich so total geschämt habe.»
«Geschämt?»
«Was ich gesagt habe. Zu dir. Ich hab's in dem Moment so gemeint, aber nicht wirklich. Jetzt nicht mehr. Das tut mir Leid. Ich schäme mich dafür.» Beide schwiegen.
«Wo bist du?», fragte sie dann.
«Bei dir ...» Er wusste, dass das kitschig klang, und fügte hinzu: «Im Bad.» Sie reagierte nicht. «Soll ich rüberkommen? Machst du mir auf?»
«Ja», antwortete Anuschka. «Komm rüber.»
Das Leben ist kein Wunschkonzert, sagte Ebba immer. Anne glaubte fest an ein System, dem alles untergeordnet war, das Gute und das Schlechte, und sie war sicher, dass ein Unglück ebenso wenig wie das Glück, wenn es auftauchte, im Leben eines Menschen allein kam, nur einmal passierte. «Alles geschieht dreimal.» Davon war sie überzeugt. Mit Wolfs Selbstmordversuch hatte es angefangen. Danach kam die Drogengeschichte und Anuschkas Festnahme. Nun also Pavels Unfall und Stivis Tod. Das hieß nach Annes Weltsicht: Drei Unglücke lagen hinter ihnen. Nun konnten sie aufatmen. Und tatsächlich: Nachdem Anuschka sich einigermaßen gefangen hatte und wieder zur Schule ging, nachdem Pavel sich dem äußeren Anschein nach berappelt hatte, seine Lehre fortsetzte, Freunde traf und am Familienleben teilnahm, ohne ständig über das Geschehene reden zu müssen, kehrte der Alltag ein. Na ja, was man bei dieser Konstellation so Alltag nennt.
Die Sommerferien standen vor der Tür. Laura hatte ein Bombenzeugnis mit nach Hause gebracht. Von Deutsch bis Praktische Kunst nur Einser. Bei Luis sah die Sache anders aus. Im Herbst sollte er auf das Gymnasium kommen, doch seinen Noten nach zu urteilen, kam das einem Gnadenakt gleich. Manchmal müssen Eltern ungerecht sein: Während Laura von ihren Großeltern mütterlicherseits, von Sybille und von Paul jeweils fünfzig Mark erhielt, ging Luis leer aus. Während sie zwei Wochen Reiterferien mit Sybille und Ruth verbringen durfte, denen sich nach einigem Hin und Her auch Anuschka anschloss, musste er zu Hause bleiben.
In diesem Jahr gab es keine Urlaubsreise für die ganze Familie. Erstens fehlte Anne das Geld dazu, und sie wollte Paul
Weitere Kostenlose Bücher