Die Albertis: Roman (German Edition)
etwas, was Anne bisher strikt vermieden hatte, denn ihr Grundsatz war, dass man über Geld in der Ehe weder sprach noch stritt. Anne machte Diät, sie mied Fett und Zucker und Alkohol, und wenn sie für ihre Familie kochte, gab es auf einmal Gerichte, die sie früher nie auf den Tisch gebracht hätte: selbst geschrotetes Müsli (eine Maschine dafür hatte sie sich zu Weihnachten gewünscht und von ihrem Mann geschenkt bekommen), Gemüseauflauf («Horror!», sagte Pavel), Buchweizengrütze, Buttermilchsuppe («Mama, die schmeckt sauer!», maulte Luis), aber auch Schnellgerichte aus der Dose und Tiefkühlgerichte und seltsame Kreationen wie Eiernudeln mit Sülze. Anne ging ins Fitnesscenter. Sie trug ein neues Parfüm. Ihre Haare hatte sie sich kürzer schneiden lassen. Das machte sie jünger. Und auch ihr Kleidungsstil war lässiger geworden. Sie räumte nicht mehr hinter ihren Söhnen her. Die Angewohnheit, sie zu kontrollieren, ihnen nachzuspionieren, aus der Sorge heraus, sie hätten Probleme, bei denen man ihnen helfen müsse, hatte sie offenbar abgelegt. Nicht einmal Luis' Hausaufgaben überprüfte sie – ein wohlvertrauter Brauch, der stets in lebendigen Streitereien gipfelte – und in Versöhnungen, das Schönste von allem. Luis stand auf einmal nicht mehr im Mittelpunkt, er fühlte sich vernachlässigt, ja, sogar ungeliebt.
Anne hatte gesagt, sie brauche mehr Zeit für sich, und jetzt, da Wolfs Buch fertig sei, könne er sich um die Familie kümmern. Wolf tat das, ohne groß zu fragen, und er machte es gut. Wenn Anne morgens noch schlief, stand er auf, weckte Luis und machte ihn schulfertig, kümmerte sich darum, dass Pavel nicht verschlief, bereitete für alle das Frühstück, stellte für seine Frau den Tee warm, ehe er den Jüngsten zur Schule fuhr und anschließend einkaufen ging.
«Du wirst mir doch nicht krank? Ich mach dir einen Pfefferminztee, okay?», fragte Wolf, stand auf und streichelte Luis die Wange. «Mein Kleiner.» Er war voller Zärtlichkeit und ein wenig sentimental, denn dass schon wieder ein Jahr zu Ende gehen würde, stimmte ihn nachdenklich. Er musste an Paul denken und daran, wie er letzten Sommer plötzlich zu ihm gesagt hatte: «Ich hab mal ausgerechnet, wie viele Sommer wir statistisch noch erleben können, Alter, dreißig! Dreißig Sommer, dann ist Schluss, und wenn wir Glück haben, noch zehne drauf. Aber die können wir dann schon nicht mehr richtig genießen, so jung kommen wir nicht mehr zusammen, darauf sollten wir anstoßen.» Das Bild von der abnehmenden Zahl der Sommer im Leben eines Menschen beängstigte Wolf ein wenig, aber er verscheuchte solche Gedanken nur allzu gerne. Solange wir gesund sind, nicht wahr, und solange Anne und ich zusammen sind und es den Jungs gut geht: Was soll mir da der Gedanke ans Sterben?
Wolf ging in die Küche. Er machte Licht. Aus dem Hängeschrank wählte er ein Päckchen mit Teebeuteln. Dann füllte er den Schnellkocher mit Wasser und schaltete ihn ein. Er seufzte. Während das Teewasser heiß wurde, öffnete er ganz ohne Grund die Besteckschublade und fing an, die Messer zu sortieren. Wie oft hatte er den Kindern und Anne gesagt: Klinge nach unten!
Die Haustür wurde aufgeschlossen. Er hörte Anne summen, ihren Schlüssel auf das Garderobentischchen legen, die Stiefel ausziehen, den Mantel aufhängen. Als das Wasser sprudelte und der Kocher sich automatisch abstellte, hängte Wolf den Teebeutel in einen Becher mit der Aufschrift Luis und goss Wasser hinein.
Anne kam herein. «Du bist ja noch auf!» Sie kam zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. «Abend, Schatz.»
«Abend.»
«Du trinkst Pfefferminztee?»
«Für Luis.»
Sie guckte auf die Uhr. «Jetzt noch? Ist er krank?»
«Keine Ahnung, er quengelt herum, kann nicht schlafen.»
Sie schüttelte sich. «Oh, ist das kalt draußen!»
«Wie war der Film?»
Sie setzte sich an den Küchentisch. Er sah, dass ihre Nase rot war und ihre Wangen glühten.
«Ausverkauft. Wir sind essen gegangen. Bei Nando.»
Sie log. Die kleinen Alltagslügen waren ihr mittlerweile so vertraut, sie perlten aus ihrem Mund, als wären sie die Wahrheit. Anne hatte Paul getroffen. Wieder einmal. Fast jeden Tag sahen sie sich inzwischen. Und sie wussten: Es durfte so nicht weitergehen. Aber es durfte auch nicht aufhören. Gerade heute Abend hatten sie wieder darüber gesprochen. Paul, der seit langem auf eine Entscheidung drängte, hatte Anne überzeugt – etwas musste geschehen, sie konnten mit diesem
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