Die Albertis: Roman (German Edition)
verarbeiten, zu verkraften.»
«Dann verlässt du uns also doch!» Luis klang verzweifelt. «Natürlich verlasse ich euch nicht.» Anne versuchte ihren Arm um ihn zu legen, aber er entzog sich ihr.
Edward hakte nach: «Was passiert denn jetzt, deiner Meinung nach?»
«Tja ...» Anne zeigte auf Pavels Zigarettenschachtel: «Kann ich eine haben?»
Wortlos kickte Pavel die Schachtel in ihre Richtung. Sie merkte, dass er ihrem Blick auswich. Anne nahm sich eine Zigarette, zündete sie an, inhalierte tief. Edward stand auf, holte einen Aschenbecher und stellte ihn wortlos auf den Tisch. Es war für Anne eine rührende, bewegende Szene, wie sie so dasaß, mit ihren Söhnen, und mit ihnen über ihre Eheprobleme und ihre Liebe zu Paul sprach und wie sie sich erhoffte, sie wären erwachsen genug, um sie zu respektieren und Verständnis für sie zu haben. Noch nie hatte sie sich so abhängig von der Meinung ihrer Kinder gefühlt wie jetzt. Sie verlangte viel von ihnen, sicher, aber schließlich hatte sie in den letzten Jahren, fast Jahrzehnten alles für sie gegeben, an Zuwendung, Energie, Erziehung. Es war an der Zeit, endlich auch einmal etwas zurückzubekommen.
«Das wird ja ein tolles Silvesterfest morgen!», konstatierte Edward. «Ich dachte immer, wir sind eine glückliche Familie.»
Die drei sahen traurig aus und ließen ihre Köpfe hängen, und am liebsten hätte Anne alle auf einmal in die Arme genommen. «Wir sind doch eine glückliche Familie!»
Pause.
«Oder?» Sie wusste, wie falsch diese Feststellung im Moment war.
«Ich habe euch was gefragt!», hakte sie nach, und es klang wie eine Bitte: Verzeiht mir.
Edward reagierte scharf: «Ich habe dich auch etwas gefragt!»
«Ich kann dir keine Antwort darauf geben, Edward, euch allen nicht. Nicht heute Abend. Die nächsten Tage werden es zeigen. Erst einmal muss Papa wieder zu Hause sein. Ich werde mit ihm in Ruhe reden ...»
«Wenn er mit dir in Ruhe reden will.»
«Das lass mal unsere Sorge sein.»
Edward stützte seinen Kopf mit den Händen ab. «Paul. Ausgerechnet!»
Keiner reagierte.
In diese Stille hinein sprang Pavel, der bisher kein Wort von sich gegeben hatte, auf, lief rot an und begann zu fluchen: «So eine Scheiße! Bist du doof oder was? Du redest hier mit uns, als ob wir über den nächsten Urlaub reden! Papa könnte tot sein.» Er zeigte auf sie: «Und du bist schuld.»
«Komm, Pavel, setz dich wieder!», mahnte Edward ruhig.
Anne war schockiert. «Habe ich kein Recht auf Liebe?», platzte es aus ihr heraus.
«Nein, hast du nicht!» Pavel war stehen geblieben. «Ich habe immer gedacht: Bei uns ist alles anders, bei uns ist alles okay, völlig normal. Ich war immer stolz auf uns hier, und auf meine Eltern. Und jetzt ... ist dir das eigentlich klar, Anne, was du für eine Dreckskacke veranstaltest? Wo ich hingucke und hinhöre, sind die Eltern meiner Freunde geschieden, ich kenne nur Typen aus der Schule oder im Freundeskreis oder auf der Arbeit, bei denen es zu Hause so was von Scheiße läuft, Scheiß-Ehen, nichts funktioniert mehr ... allein erziehende Mütter, verlassene Väter ...», aufgebracht lief er hin und her, «... unsere Generation, wir haben die Nase voll von euch, ihr seid unfähig, vernünftige Beziehungen zu haben, ihr könnt nicht treu sein, ihr geht in euren fuck-spießigen Bund der Ehe, ohne euch das vorher zu überlegen, ob so was überhaupt Sinn macht, und ihr spielt euch auf, vor uns, von wegen Vorbild, ich könnte kotzen. Ihr seid keine Vorbilder. Ihr seid keine Eltern, Dreck seid ihr. Ich hasse dich!» Bei den letzten Worten war er aus der Küche gerannt und hatte die Tür hinter sich zukrachen lassen.
«Wartet!», rief Anne, so, als würden die beiden anderen weglaufen wollen, drückte ihre Zigarette aus und ging Pavel nach. Er war in seinem Zimmer verschwunden. Sie klopfte an. Er antwortete nicht.
«Pavel?»
Sie drückte die Klinke herunter. Er hatte abgeschlossen.
«Ich möchte mit dir reden, Pavel. Bitte, mach auf!»
«Verschwinde. Oder ich komme raus. Und dann weiß ich nicht, was ...»
«Bitte, Pavel!», flehte Anne. Sie hörte ihn drinnen Sachen zerschlagen und hatte plötzlich Angst. «Ich hab dich lieb, du bist doch mein Sohn. Wir müssen doch auch über Probleme miteinander reden können.»
Er antwortete nicht. Einen Moment blieb sie noch im Flur stehen, lauschte, bis es drinnen ruhig wurde. Es brach ihr fast das Herz. Doch sie konnte nichts für Pavel tun, er musste das allein mit sich ausmachen,
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