Die Albertis: Roman (German Edition)
«Gleich kommt der Arzt. Sie bringen ihn ins Krankenhaus, da kann ihm nichts mehr passieren, ihm wird der Magen ausgepumpt, und in zwei, drei Tagen, du wirst sehen, Mensch, dann ist alles wieder ...» Die Stimme versagte ihm. Er strich seinem Vater zart übers Haar. «... nicht, Dad? Du wirst doch wieder okay sein, nicht? Was machst du nur ...»
Stille. Wie paralysiert starrten sie alle auf Wolf.
«Aber wir können doch nicht hier so herumstehen!» Pavel weinte jetzt leise.
«Mama!» Luis umarmte sie. «Hat Papa sich umgebracht?»
«Nein. Er hat Tabletten genommen. Er hat es versucht. Du hast ja gehört, was Edward ...»
Pavel unterbrach sie: «Aber warum?»
Sie konnte nicht sofort antworten. Sie holte tief Luft. Anne setzte sich an den Rand des Sofas, nahm Wolfs schlaffe Hand in die ihre, strich liebevoll seine Finger. «Er hat etwas erfahren. Etwas, was ihm sehr weh getan hat.»
Alle drei schauten sie an, fragend.
«Und ihr müsst es auch wissen. Paul und ich ...»
Weiter kam sie nicht. Es klingelte heftig an der Haustür. Alle rannten durcheinander, Edward ging als Erster in den Flur und betätigte den Summer. Dann ging alles sehr schnell. Wolf wurde abtransportiert, nachdem der Notarzt ihn untersucht hatte. Er beruhigte die Familie: Die Tablettendosis war nicht so gefährlich wie vermutet, auf jeden Fall konnte er davon nicht sterben.
Anne fuhr im Krankenwagen mit. Edward, der sich in Windeseile angezogen hatte, kam im Volvo hinterher. Pavel erhielt den Auftrag, sich um den jetzt völlig aufgelösten Luis zu kümmern, und, sollte zufällig jemand anrufen, nicht zu sagen, was passiert sei.
Bis zum Abend blieb Anne im Krankenhaus, zweimal telefonierte sie kurz mit Paul, vor allem um ihn zu beruhigen und sich trösten zu lassen. Edward hatte sie sofort wieder nach Hause geschickt, nachdem ihr versichert worden war, Wolf sei außer Lebensgefahr. Er wurde in die psychiatrische Abteilung verlegt. Der Chefarzt, Professor Wegener, ein älterer grauer Herr mit Vollbart und Hornbrille, der ein wenig lispelte, sprach über eine Stunde mit ihr und ließ sich detailliert die häusliche Situation schildern. Zu Annes Erstaunen reagierte der Arzt sehr verständnisvoll. Ihren Wunsch, Wolf sehen zu dürfen, lehnte Professor Wegener zunächst ab. Doch nachdem Wolf am späten Nachmittag aufgewacht war und nach seiner Frau verlangt hatte, durfte sie zu ihm.
Blass, unrasiert, aber ordentlich gekämmt lag er im Bett, das Kopfteil war ein wenig hoch gestellt. Die Jalousien vor dem Fenster des Einzelzimmers waren heruntergelassen worden. Eine Neonröhre, die oberhalb des Bettes unter einer weiß lackierten Holzleiste montiert war, in der sich Steckdosen und Anschlüsse für eine Sauerstoffflasche und die Fernbedienung für den Fernseher in der Ecke und die Ruftaste für die Krankenschwester befanden, strahlte kaltes Licht aus. Es hätte ein Raum zum Sterben sein können. Zu allem Überfluss hatten sie Wolf in ein weißes Nachthemd gesteckt, so wie sie es mit Patienten taten, denen einen Operation bevorstand; Anne hatte das Gefühl, er trüge ein Totenhemd.
Jedem wird im Leben nur das aufgebürdet, heißt es, was er tragen kann. Doch wir wissen von genügend Beispielen, Ereignissen, Vorfällen, die uns gezeigt haben, dass dies nur ein Satz ist, keine Wahrheit, ein Trostspruch, ein Altar, ein Haltegriff, oder einfach nur eine Krücke. Immer wieder geschieht es, dass Menschen von dem, was ihnen passiert, überfordert sind, überrollt werden, niedergeschlagen sind. Es gibt Dinge, die wir nicht verstehen, die wir nicht tragen und nicht ertragen können und die uns an eine Grenze bringen und manche von uns darüber hinaus. Und ist es auch Pflicht eines jeden, dem anderen nur das zu sagen, was er aufnehmen kann, so wird gegen diese Regel des Anstands und der Menschlichkeit doch täglich verstoßen, und auch Paul hat sich selbst als Freund darüber hinweggesetzt, weil er glaubte, die Wahrheit sei wichtiger als der Schutz, und weil er so beladen war von seinem Betrug, dass er sich entlasten, die schwere Last Wolf aufbürden wollte, in der Hoffnung vielleicht, er würde verstehen und verzeihen. Aber Wolf konnte nicht verstehen. Seine Ehe war ihm nicht bequemes Gefährt, seine Söhne keine kostenlose Dreingabe. Die Familie war sein Leben. Dieses Leben, so schien es Wolf an jenem dunklen Dezemberabend, hatte Paul ihm entrissen. Kein Halt mehr, kein Boden unter den Füßen, das Unvorstellbare war eingetreten – er war ein betrogener
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