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Die Albertis: Roman (German Edition)

Die Albertis: Roman (German Edition)

Titel: Die Albertis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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Damals und Heute zu diskutieren. Sie wollte nicht noch einmal alles durchkauen, sie wollte ihr nicht erklären, wie schwierig die vergangenen Wochen gewesen waren und dass sie und Wolf und auch Paul es sich keinesfalls so leicht gemacht hatten, wie ihre Eltern jetzt dachten. Ihre Skrupel, ihre Ängste, die schlaflosen Nächte, die Diskussionen mit Paul, Wolfs Selbstmordversuch, der Krankenhausaufenthalt, die Kur, die gemeinsamen Gespräche danach, seine Verweigerung, sein Auszug: Das lag hinter ihr, und was wussten schon ihre Eltern davon.
    Anne sah auf ihre Armbanduhr. Es war Viertel nach eins. «Sag mal, wo bleibt er denn?»
    «Geh doch mal gucken. Er wird sich ja wohl nicht in die Alster gestürzt haben!»
    Anne erhob sich, ging durch das Restaurant in die angrenzende Kaminhalle, schlenderte den Flur entlang und sah sich am Telefonkiosk und der gegenüberliegenden Garderobe nach ihrem Vater um. Keine Spur von ihm. In diesem Moment kam der elegante Mann vom Nebentisch aus der Herrentoilette heraus. Er lächelte sie an.
    «Sie suchen ihren Vater?»
    «Ja genau!» Sie lächelte zurück.
    «Er ist da drinnen!» Er deutete mit dem Zeigefinger hinter sich zu der Toilettentür.
    «Danke.»
    Er machte eine leichte Kopfbewegung, die andeuten sollte: gerne geschehen und ging. Dann jedoch blieb er stehen, drehte sich noch einmal zu ihr um und sagte: «Entschuldigen Sie?»
    «Ja?»
    Er kam zu ihr und überreichte ihr seine Visitenkarte: «Wenn Sie einmal über etwas anderes reden möchten als über Eheprobleme ... wenn Sie vielleicht auch mal ohne ihre Eltern hier essen gehen wollen ... ich würde mich freuen!» Damit verschwand er endgültig. Verblüfft betrachtete Anne die Visitenkarte:
    Jean van der Marsch, Immobilien
    stand da. Und eine feinste Adresse. Und eine Telefonnummer. Und eine Faxnummer. Und eine Handynummer. Und eine E-Mail-Adresse. Anne hätte hell auflachen können. Das musste sie Ebba erzählen! So heiter und unbeschwert konnte das Leben sein. Annette Alberti @ Jean van der Marsch. Oder auch nicht. Sie steuerte auf die Waschräume zu.
    «Damen sind drüben!», erklärte die Garderobiere und deutete zur anderen Seite.
    «Ich weiß!», erwiderte Anne und ließ sich nicht beirren. Schwungvoll öffnete sie die Tür mit dem geschwungenen H aus Messing. Der mit Marmor und Spiegeln ausgeschlagene Vorraum war leer. Sie öffnete die nächste Tür: links die Pissoirs, rechts, hinter drei weiteren Türen, die Toiletten.
    «Paps?», fragte sie und hielt vorsichtshalber die Klinke der geöffneten Tür in der Hand. Keine Antwort. «Paps?»
    Hinter der vordersten Tür erklang seine Stimme: «Was willst du?»
    «Was ist denn los? Wo bleibst du?»
    «Darf ich vielleicht mal in Ruhe ...?»
    «Aber doch nicht eine halbe Stunde! Geht es dir nicht gut?» «Mir geht es blendend. Verdauung funktioniert. Danke der Nachfrage.»
    «Paps, komm doch raus. Sei doch nicht so!»
    Wieder fiel sie in die Erinnerung an ihre Kindheit zurück. Wie oft hatte sie sich als Kind ins Klo eingeschlossen, heulend. Wie oft hatte ihre Mutter an die Tür geklopft und sie gebeten, herauszukommen. Nie hatte Anne gefolgt. Wie herrlich ließ es sich auf dem Klo nachdenken über die Ungerechtigkeit des Lebens, wie wunderbar konnte man dort trauern, über schlechte Noten, Ohrfeigen, Hausarrest. Nur ihrem Vater war es gelungen, sie da herauszuholen, und zwar mit üblen Drohungen und Verabredungen: «Ich gebe dir ab jetzt zehn Minuten. Jede Minute bedeutet zehn Prozent weniger Taschengeld. Ich warte. Fünf Mark sind schon weg ...» Das allerdings war dann selbst für sie eine einfache Rechnung. Fünf Mark weniger pro Minute von fünfzig Mark Taschengeld, das bedeutete, auf die Bravo verzichten, auf die neue Gary-Glitter-Platte, auf die Jeans mit der passenden Weste.
    Und nun stand sie hier, fast dreißig Jahre später, auf der Herrentoilette des Hotels Vier Jahreszeiten, vor der Toilettentür, hinter der sich ihr Vater eingeschlossen hatte, weil sie sich von Wolf getrennt hatte und Paul liebte. Wäre es nicht so verrückt, so unglaublich gewesen, sie hätte lauthals gelacht.
    «Papa», bat sie, und ihre Stimme klang sehr süßlich, «komm raus, lass uns reden.» Sie ließ die Tür zufallen.
    «Da gibt es ja wohl nichts mehr zu reden.» Kam es von innen zurück, kläglich fast. «Du bist eine erwachsene Frau. Ist dein Leben, nicht wahr. Jeder macht sich so unglücklich, wie er kann. Ich bin ein alter Mann. Ich werde bald sterben. Was sollen wir da noch

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