Die Albertis: Roman (German Edition)
Annette, sag, dass das nicht stimmt, ich kann nicht glauben, dass unsere Frau Tochter mit dem Freund ihres Mannes, also das ist ja unmöglich! Was hast du dir dabei gedacht? Man trennt sich doch nicht nach zwanzig Jahren!»
Doris besah sich ihre lackierten Fingernägel. «Der arme Wolf», sagte sie immer und immer wieder. «... Der arme Wolf.»
Dass er Paul zusammengeschlagen und einen Selbstmordversuch hinter sich hatte, im Krankenhaus und zur Kur gewesen war, das verschwieg Anne.
«Und das ist endgültig? Was ist denn mit der Frau von dem? Ich denke, der hat auch eine Familie, Töchter oder so, nicht wahr? Hast du mal an deine Söhne gedacht? Was ist denn mit Edward?»
«Und Pavelchen ?»
«Herrgott, Annette! Nun rede doch. Wieso erfahren wir das erst jetzt? Rücksichtslos! Scheinheilig!»
«Ernst! Jetzt sei nicht so laut!»
Am Nachbartisch hatte eine ältere Dame in Begleitung eines Mannes – offenbar ihres Sohnes – Platz genommen, und sie sahen herüber. Ernst Hofmann setzte seinen Wutausbruch fort, etwas leiser als vorher, aber schärfer in der Artikulation: «Schein-hei-lig sage ich! Uns hierher zu holen, von wegen Bankgeschäfte und ich lade euch ein. Wahrscheinlich alles vorher mi-nu-zi-ös geplant. Alles abgesprochen mit Frau Mommsen, die weiß es doch wahrscheinlich auch schon längst alles, alle wissen es, nur deine Eltern, deine arme Mutter und ich, die es als Erste erfahren sollten, nicht wahr, die werden zuletzt informiert. Doris! Sag was!»
«Ich weiß nicht, was ich sagen soll!» Sie griff nach ihrem Weinglas, es war leer. Anne wollte ihr nachschenken, aber Doris hielt ihre Hand über das Glas. Anne kam sich vor wie eine Sünderin, von der man nichts annehmen wollte.
«Jaa! Als es damals um die Frage ging, Häuschen kaufen für die liebe Familie Alberti. Da waren die dusseligen Eltern aus Bremen gefragt! Da sollten wir unsere Schatulle aufmachen und Paps hier und Mamutschka dort. Bisschen bürgen vielleicht? Euch aus der Patsche helfen bei momentaner Geldnot? Ich könnte ...» Er spülte den Rest des Satzes mit Bier herunter. «Und wie rücksichtslos Kinder doch sind, alles Egoisten! Uns das ausgerechnet hier, in diesem herrlichen Lokal, bei diesem wunderbaren Essen, ich meine, wann haben wir schon mal Gelegenheit, mit dir essen zu gehen, dich einmal ganz für uns zu haben, so ein Rahmen, das haben wir nicht alle Tage, da freuen wir uns drauf, und deine Mutter geht extra zum Friseur, nicht wahr, dann versaust du uns das mit einem solchen ... solchen ... Hieb! Habe gar keinen Appetit mehr! Vielen Dank!» Weit schob er seinen Teller von sich. «Weiß Ingrid davon? Bestimmt! Ich wette, hier in Hamburg pfeifen es die Spatzen von den Dächern, na ja, Großstadt, da ist so etwas ja gang und gäbe, vollkommen normal: Frau Tochter geht um die Ecken! Ehebrecherin. Na, prost Mahlzeit!»
Ihre Eltern sahen sie an. Sie erwarteten offenbar Widerruf. Leider nicht möglich. Anne konnte ihrem Blick nicht standhalten und schaute durchs Fenster auf die Alster hinaus. Ein wenig fühlte sie sich erleichtert. Sie hatte es gesagt. Sie hatte es hinter sich. Die letzte Hürde schien genommen. Aber war es wirklich die letzte? Anne hatte auf einmal das Gefühl, dass die richtigen Schwierigkeiten noch vor ihr lagen. Wie würde es weitergehen? Mit ihr. Und Paul. Mit ihr und Paul und den Kindern. Auf jeden Fall gemeinsam. Sie liebten sich. Und das war das Wichtigste.
Sie guckte zum Nachbartisch hinüber. Offenbar hatte der Mann, der seine Mutter zum Lunch ausführte, mitbekommen, worum es ging. Er sah gut aus. Mitte dreißig mochte er sein.
Er schaute kurz zu ihr herüber. Anne merkte in diesem Moment, dass er mit ihr flirtete.
In den vergangenen Monaten war Anne ihre eigene Verwandlung bewusst geworden. Seitdem sie so glücklich war mit Paul, hatte sie eine andere Ausstrahlung bekommen. Sie fiel den Männern auf. Und sie bemerkte es. Ausgerechnet jetzt, wo sie es am wenigstens nötig hatte, trat das ein, wonach sie sich in all den Jahren gesehnt hatte. Schon immer hatte sie Ebba um deren sexuelle Anziehungskraft beneidet. Ein Leben lang hatte sie darunter gelitten, in die Kategorie lieb, aber spröde zu gehören. Zwischen dem, was man sich wünschte, und dem, was man sich zutraute, zwischen dem, wie man als Frau wirkte und wie man tatsächlich war, lagen Welten. Sie war weder lieb, noch war sie spröde. Wie oft hatte sie in den intimen Gesprächen mit Ebba gesagt: «Ich möchte erotisch sein, so wie du, Ebba. Ich
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