Die Albertis: Roman (German Edition)
hatte, und stattdessen den Abend genießen.
Mit Stivis Motorrad rasten sie über die B 75, die Bundesstraße, Richtung Lübeck, und Anuschka malte sich aus, während sie ihn umschlang und den Geruch seiner Lederjacke einatmete und der Wind ihr ins Gesicht schlug wie gefrorenes Silber, sie wären zwei Blätter im Sturm, saftige grüne Blätter im blauen Sturm, und sie würden hochgetrieben und wirbelten und tanzten, und dann fortgetragen, so wie sie es vorhin in der Küche, der dunkelbraunen, besprochen hatten, durch die farblose Luft, weit weg, leicht, federleicht, segelnd, schneller und schneller, immer gegen alles, was sich ihnen entgegenstellte, die Bäume, wie schwarze Pfeile, hui, einer und noch einer und noch einer, die gelben Häuser, wie Gestalten, dicke, dünne, hohe, schmale, die Wiesen, bunt gescheckt, Wälder, rot, feuerrot, sieh nur, alles vorbei, vorbei, eben gesehen, schon lag es weit entfernt, und Anuschka breitete die Arme aus und schrie: «Ich kann fliegen!», und Stivi schrie: «Halt dich fest, Süße, wir fliegen gemeinsam», und sie brüllten sich mit zwei Stimmen, die zu einer wurden, die Seelen aus dem Leib, und Anuschka rief «Ich kann die Straße schmecken», und dann «Ich kann die Farben riechen», und sie fühlte sich stark wie eine Schneeleopardin in den Bergen und klug wie eine Gazelle in der Savanne und leicht wie ein Schmetterling im Tal, und sie rannte und glitt und sprang und flatterte gleichzeitig, und das alles kam nur, weil sie eine E genommen hatte, die Stivi ihr nach dem Spaghettiniessen in den Mund steckte, während in der Küche die Wände weich wurden, durch die House-Music, eine bonbonrosane Ecstasy-Tablette in Herzchenform, wow!, das Leben, das Leben, das Leben ...
Vor der Diskothek Tanzbar, die sie Club nannten, hielt Stivi an. Früher hatte Anuschka verächtlich mit ihren Freundinnen darüber gelästert, dass sich dort nur Dorftrottel trafen. Doch seitdem sie mit Stivi ging, liebte sie diesen Laden. Er hatte sie eines Besseren belehrt.
«Also ...», sagte er. «Dann wollen wir mal.»
Anuschka musste kichern. Sie hatte beste Laune.
«Nun krieg dich wieder ein.»
«Okay, okay.»
Er legte den Arm um sie, eng umschlungen betraten sie die Diskothek.
Sie wollte sofort mit ihm tanzen, doch Stivi steuerte direkt auf den langen Tresen zu, um den sich die jungen Gäste drängten. Mittwoch war ein guter Tag zum Ausgehen, viel besser als der spießige Freitag oder der Samstag der Landpomeranzen, wo die Bauernsöhne in Gummistiefeln auf der Tanzfläche stampften und ihre Mädchen Parfüms trugen, die nach Pampelmuse, Vanille oder Mango rochen, steil gegen den Stallgeruch, wie Anuschka oft zu ihren Freundinnen sagte.
«Was trinkst du?», fragte ihr Freund.
«Ich trinke, was du trinkst!», sagte sie lachend, und fand das irre komisch und wiederholte es noch einmal: «Ich trinke, was du trinkst!»
Stivi bestellte zwei Cola mit Wodka und begrüßte ein paar Freunde, seine Ex-Biggi, seine Ex-Sara und seine Ex-Desiree. Eifersucht kannte Anuschka nicht, schon gar nicht in dieser Nacht. Sie hauchte den Mädchen Küsse auf die Wangen und umarmte die Jungs, wechselte hier und da ein paar Worte und bewegte sich dabei im Takt der Musik. Sie nahm ihr Glas entgegen, und als sie aus ihrer Cargohose Geld herausziehen wollte, winkte Stivi ab: «Das macht Kappe!»
«Ist in Ordnung!», rief Kappe, der so hieß, weil man ihn noch nie ohne seine Baseballkappe gesehen hatte. Er machte die Bar und für gute Freunde gab er gerne einen aus. Anuschka hielt ihm fröhlich dankend ihr Glas entgegen, trank dann einen großen Schluck und sah sich um.
Plötzlich entdeckte sie Pavel, alleine, gegen den Tresen gelehnt, mit Blick auf die Tanzenden, Traurigkeit im Blick, Verlorenheit in der Haltung, ein Bier in der Hand.
«Hey!» Sie drängelte sich durch die Leute. «Hey, Pavel!»
Pavel guckte erstaunt.
«Was machst du denn hier?», fragte sie grinsend.
Pavel war überrascht, Anuschka zu sehen, besonders überraschte ihn, wie fröhlich und ausgelassen sie zu sein schien, ganz anders als heute Mittag, nicht so böse und abweisend. Sie kam auf ihn zu und drehte sich kurz zu ihrem Freund um und schrie: «Stivi!» Dann umarmte sie den verblüfften Pavel, als hätten die beiden sich seit Wochen nicht gesehen, und drückte sich an ihn, schmiegte sich an ihn, wiegte sich zur Musik, als wären sie ein Paar oder wenigstens gute Freunde. Stivi kam zu den beiden.
Anuschka ließ von Pavel ab. «Das ist Stivi,
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