Die Albertis: Roman (German Edition)
bring mal die Maschine weg!» Das Wort Maschine gefiel ihr. «Maschine, Maschine, Maschine.»
«Nicht so laut! Die schlafen doch alle hier!», zischte er.
Das Haus lag vollkommen im Dunkeln. Wolken trieben über den Himmel, eine von ihnen verdunkelte den Mond, verdeckte sein Licht für ein paar Sekunden. Dann gab sie ihn wieder frei, die nächste Wolke kam – einem Spiel gleich, das einen magnetisch anzog und von dem man den Blick nicht lassen konnte.
Beide starrten eine Weile hoch. Plötzlich riss Pavel sich los und schaute Anuschka an. Sie war so schön wie nie, gelöst, weich, andächtig, das Lachen war aus ihrem Gesicht verschwunden, fast unberührt wirkte sie, wie eine Marmorstatue. Am liebsten hätte er sie geküsst, wie sie so dastand, in ihrem dicken Pullover mit der viel zu weiten Hose, den Kopf in den Nacken gelegt, das Gesicht zum Himmel gewandt. Doch das ging nicht. Nichts ging. Er war ein Gefangener. Sie alle waren in diesem Haus, in diesem neuen Leben gefangen, jeder auf seinem Platz, jeder unverrückbar, wie Töne in einer Komposition, die er nicht gemacht hatte und die in seinen Ohren niemals würde lieblich klingen.
«Also.»
«Okay», sagte sie in einer Mischung aus Singsang und Zwitschern. «Okay.» Sie ging zur Haustür. «Darf ich als Erste?»
«Was?»
Sie lachte: «Ins Bad.»
«Klar!»
«Ich mache auch ganz schnell.»
«Bis ich meine Vespa verstaut habe ...»
«... bin ich schon fertig. Schlaf gut.»
«Du auch Anuschka.»
«Ich bin überhaupt noch nicht müde», erklärte sie und steckte den Schlüssel in die Haustür. «Wir könnten noch bei mir auf dem Zimmer quatschen!»
«Das können wir doch von jetzt ab jeden Abend», meinte er fast zärtlich.
«Du hast Recht!» Sie strahlte ihn an. Dann machte sie die Haustür auf und verschwand.
Er blieb stehen, und ihm wurde klar, dass er die ganze Zeit über die Vespa gehalten hatte, ohne dass ihm ihr Gewicht aufgefallen war. Vielleicht, dachte er, ist das alles doch nicht so verkehrt. Vielleicht würde er langsam nachlassen, der Schmerz, von der eigenen Mutter verraten, das Gefühl, bestohlen worden zu sein um die Kraft, die einem eine glückliche Familie schenkte. Vielleicht fanden sie schon bald zu ihrer alten Form zurück, zur Normalität, zum Alltag einer ganz und gar gewöhnlichen Familie.
KAPITEL 10
Meine Kinder, deine Kinder
Vielleicht fanden sie schon bald zu ihrer alten Form zurück, zur Normalität, zum Alltag einer ganz und gar gewöhnlichen Familie: Das war auch Annes Wunsch. Sie tat alles dafür. Morgens stand sie kurz nach sechs als Erste auf. Ging hinunter, setzte im Kessel Wasser auf, bereitete eine Kanne Early-morning-breakfast-tea zu und brachte Paul eine Tasse davon ans Bett. Dann weckte sie Luis zum ersten Mal. Anschließend Pavel. Danach machte sie zehn Minuten im Ankleideraum Gymnastik, duschte, zog sich an und half Frau Merk dabei, das Frühstück für alle zu machen, eine Arbeit, die nahezu stumm vonstatten ging. Die Mädchen standen von allein auf. Anne hatte das Gefühl, sie würde ihnen zu nahe treten, wenn sie auch bei ihnen den Weckdienst übernehmen würde. Paul hatte ebenfalls sein festes Morgenritual. Wenn er seinen Tee ausgetrunken hatte, ging er im Morgenmantel frühstücken, ohne auf die anderen zu warten, las dabei seine Zeitung, machte sich fertig und verschwand gegen sieben durch die Tür im Gang zwischen Küche und Speisezimmer in seiner Praxis. Er und Anne wechselten in dieser Zeit kaum ein Wort miteinander. Im Gegensatz zu Wolf war er ein Morgenmuffel. Für Anne war das eine neue Erfahrung, und zweimal hatten sie deswegen sogar einen kleinen Krach gehabt. Aber dann akzeptierte sie es und empfand es sogar als angenehm, weil sie genügend anderes zu tun hatte, als mit ihm zu plaudern. Dafür waren die Abende reserviert. Um halb sieben versuchte sie zum zweiten Mal, Luis aus den Federn zu kriegen. Ihr kam es vor, als wäre sie im selben Film, nur dass er an einem anderen Ort spielte. Pavel zog, wie er es nannte, nur sein Nuttenfrühstück durch: einen Becher schwarzen Kaffee und eine Zigarette im Stehen. Dann düste er mit seiner Vespa zum Bahnhof, wo er den Zug nach Hamburg nahm. Er war ein bisschen umgänglicher geworden, doch die gute Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter war nach wie vor gestört. Doch Anne gab die Hoffnung nicht auf, dass am Ende dieses Tunnels wieder Licht sein würde, Licht, Luft und Herzlichkeit. Sie forcierte nichts. Sie wartete ab. Edward stand morgens
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