Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
fern jeglicher Vernunft treiben zu lassen. Doch gerade jetzt, als sie ihren Gedanken weiter nachhing, musste sie lächeln, denn Christoph Hufeland war trotz seines augenzwinkernden Charmes ein so kontrollierter Mann, dass sie sich lodernde Leidenschaft mit geflüsterten Schwüren, den Geruch nackter Lust, Dinge, von denen sie die Studenten im Wirtshaus hatte reden hören, bei ihm nur schwer vorzustellen vermochte.
Unwillkürlich musste sie an Johann denken, dessen Gebaren dagegen beinahe animalisch war. Nur vor ihr hatte er in dieser Wildheit |341| Halt gemacht. Ihr war er stets mit vollendeter Zurückhaltung begegnet, bis zum gestrigen Tag, an dem er aus dem Exil heimgekehrt war. Und im Nachklang schmeckte diese ungestüme Begrüßung, dieser Versuch des In-Besitz-Nehmens nach schierer Verzweiflung.
Sie versuchte, sein Bild zu vertreiben, sich nicht vorzustellen, was in ihm vorgehen mochte, wenn er bemerkte, dass sie nicht mehr da war. Keinen weiteren Gedanken wollte sie an ihn verschwenden. Nur an Christoph denken und an das, was vor ihnen lag. Doch der Traum einer gemeinsamen Zukunft, noch im Halbschlaf gesponnen, erwies sich nun, da die Sonne langsam die Morgendämmerung vertrieb, als haltlos. Christoph war verheiratet, und er war ein Christ, durch und durch moralisch.
Nachdenklich stand Helene auf, ging zum Waschtrog, nahm Wasser aus dem Krug und erfrischte das Gesicht, bevor sie ihr Kleid überzog und den Raum verließ.
Sie fand ihn im Schreibzimmer. Er stand vor dem Tisch und ordnete ein paar Bücher. Als sie eintrat, blickte er auf.
»Guten Morgen«, sagte er lächelnd und verschränkte die Arme, »hast du gut geschlafen?« Das Lächeln war freundlich, doch spürbar distanziert. »Du kannst dir unten etwas zu essen holen, ich habe der Köchin bereits gesagt, dass ein weiblicher Gast anwesend ist. Nachher kommt Doktor Hahnemann, um Albert zu sehen, vielleicht möchtest du ihn kennenlernen?«
Helene hörte diese Worte, doch die inständige Bitte, die sie mit sich trugen, traf sie mitten ins Herz. Bleib mir fern, schienen sie zu sagen.
»Keine Sorge, du wirst mich gar nicht bemerken«, sagte sie spöttisch und verzog den Mund, bevor sie ging.
»Ich werde Johann heute Nachmittag besuchen«, rief er ihr nach.
Sie drehte sich um und stemmte die Hände in die Hüfte. »Und was wirst du ihm sagen? Dass wir uns geküsst haben?«
Er lächelte verlegen, sah nun aus wie ein Schuljunge, den man beim Stehlen erwischt hatte. »Nein«, sagte er, und seine Stimme klang belegt. »Ich muss ohnehin mit ihm sprechen. Aber ich werde |342| ihm sagen, dass du bei mir zu Gast bist. Das wäre das Ehrlichste, er wird es ohnehin herausfinden. Jena ist klein.«
»Und dann? Er wird dich verprügeln, wie er auch Martin Ebeling verprügelt hat. Kannst du dem standhalten?«
»Helene, wenn es sein muss, werde ich mich auch mit ihm prügeln, selbst wenn ich dabei den Kürzeren ziehen sollte.« Er ballte die Fäuste. »Aber es muss endlich ausgesprochen werden, es gibt so vieles, das ungesagt ist, und ich habe es satt, die Vergangenheit totzuschweigen.«
»Ich finde, du verstehst dich ganz gut im Totschweigen«, entfuhr es ihr, und ehe er darauf antworten konnte, verließ sie den Raum.
Als Erstes ging sie in den Garten und brach einige Zweige des in voller Blüte stehenden Holunders, füllte eine Vase mit Wasser und brachte sie zu Albert, der zusammengekauert im Bett lag und fest schlief. Caspar saß neben ihm auf einem Stuhl und sprang auf, offenbar froh über die Abwechslung.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie.
»Unverändert. Er schläft viel.«
Das ist sicher gut, dachte sie, vielleicht würde er ja eines Tages einfach erwachen und wieder der Bruder sein, der er einmal war.
»Was sind das für Zweige?«, fragte Caspar interessiert und sah ihr dabei zu, wie sie die Vase an das Fenster stellte.
»Das ist schwarzer Holunder. Er bewacht die Grenze zur Unterwelt und schützt vor Geistern und dunklen Mächten.«
»Gut«, sagte er nur, rückte seinen Stuhl näher ans Fenster und setzte sich wieder.
Helene beugte sich zu Albert hinunter, strich ihm über den Rücken, dann küsste sie seine Stirn und ging nach unten, um zu frühstücken.
Am langen Tisch saßen bereits einige Studenten des Hauses, sie feixten verstohlen, als sie den Raum betrat. Augenblicklich drehte sie sich um und eilte hinaus, durch das Foyer und die breite Eingangstür auf den Vorplatz. In der kühlen Luft schwang ein Hauch des nahenden Sommers, lockend und
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