Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
drohte sie einzudrücken. Sie fröstelte.
Nun hörte sie seine Schritte, spürte seinen Atem in ihrem Nacken und gleichzeitig auch seine Zurückhaltung. Seine Gestalt spiegelte sich im Glas der Fenster, als er innehielt, kaum dass er bei ihr war.
»Mir ist kalt«, sagte sie, während sie sich zu ihm umdrehte. »Ich würde gern etwas Warmes trinken.«
Er hatte für sie und für sich selbst einen warmen Grog gemacht. Nun saßen sie nebeneinander auf dem Sofa, und er beobachtete, |338| wie sich ihre Gesichtszüge entspannten. Sie erzählte von Vogt und von der Angst, die sie vor ihm hatte. Und während sie sprach, spürte er, wie der warme Grog ihm den Magen wärmte und auch sein Herz.
Helene war so schön und klug, schien ihm seelenverwandt und doch fremd. Aber hatte er nicht auch geglaubt, in Juliane eine Seelenverwandte gefunden zu haben, damals in Weimar, als sie ihn mit ihrer scheinbaren Ungezwungenheit überrascht hatte, die so anders war als die gezielte Koketterie der höheren Töchter? War es nicht Julianes Fröhlichkeit, die seinem ernsten Wesen guttat? Doch wo einst Lachen war, standen jetzt nur Vorwürfe und Groll, ein ständiges Gefühl der Schuld lastete auf ihm, ohne dass er wusste, weshalb.
»Christoph? Hören Sie mir zu?« Helene lächelte traurig. »Sie sehen müde aus. Vielleicht sollte ich jetzt besser gehen.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Es gibt ein halbes Dutzend Gasthäuser in dieser Stadt.« Sie stand auf. Auch Hufeland erhob sich.
»Zu so später Stunde?«
Der Gedanke behagte ihm nicht. Es wäre besser, wenn er ihr ein Zimmer gab. Doch er nickte nur und rieb sich das Kinn. Helene lächelte ihn unsicher an. Es waren die eigentümlichsten Gefühle, die ihn durchströmten. Wenn sie jetzt blieb, war er verloren, und er konnte sich nicht dagegen wehren.
»Machen Sie es gut, Christoph«, sagte sie mit dünner Stimme.
»Warten Sie, ich begleite Sie.«
Seine Gedanken rasten. Gewiss, Juliane war eine anstrengende Frau, doch sie war ihm gut und treu, und sie hatte es nicht verdient, dass er sich mit einer anderen Frau einließ. Er wollte ihr kein Leid antun. Sie war die Mutter seiner Kinder.
Er nahm seinen Mantel und folgte Helene hinaus in den Regen.
Vor allem hatte auch sie das nicht verdient. Denn was sollte aus ihnen werden, außer einer Farce, einem lauen Lippenbekenntnis. Aber in seinem Herzen brannte ein Feuer, das seinen Körper in Wallung brachte, und er vermochte es kaum zu unterdrücken.
|339| Ihre Schritte knirschten auf dem Boden, als sie über den kiesbestreuten Platz gingen und den Torbogen erreichten. Weiter in die Dunkelheit, die Gassen entlang, in denen kaum noch ein Fenster erleuchtet war. Nun standen sie vor dem ersten Gasthof, alles war dunkel, und erst als sie die Hand hob, um an die Tür zu klopfen, hielt er sie zurück.
Sie sah ihn fragend an.
Ohne weiter darüber nachzudenken, was er tat, nahm er ihren Kopf zwischen seine Hände und küsste ihren Mund. Er schmeckte salzig. Gerade wollte er sich zurückziehen, unsicher, wie sie reagieren würde, als sie ihre Lippen öffnete und den Kuss erwiderte. Erst sanft, dann drängend. Alles um sie herum schien vergessen. Der Regen fiel auf sie herab, tropfte auf Gesicht und Haar, als sie atemlos innehielten und eng umschlungen beieinanderstanden. In diesem Augenblick, als Hufeland ihren warmen Körper an seinem spürte, wusste er, dass es richtig war, und sei es nur für diesen Moment.
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JENA
13. MAI 1793
Es war noch nicht hell, als Helene erwachte. Der kühle Morgenwind blies durch das leicht geöffnete Fenster und ließ die Vorhänge wehen, schwer und träge.
Sie streckte sich, fühlte eine Leichtigkeit wie seit Jahren nicht mehr und konnte es gar nicht erwarten, aufzustehen und dem Tag zu begegnen. Dem Tag und ihm, Christoph.
Langsam fuhr sie sich mit den Fingern über die Lippen, spürte den Küssen nach, die in der vergangenen Nacht jeden Widerstand zwischen ihnen beseitigt hatten. Sie hatten lange im Regen gestanden, atemlos und mit klopfendem Herzen. Dann, als sie zu frösteln begann, waren sie in sein Haus zurückgekehrt. Er hatte ihr ein freies Zimmer im oberen Stock gegeben, um sich dann, ganz Ehrenmann, zurückzuziehen.
Gestern Nacht war sie darüber erst enttäuscht und dann erleichtert gewesen. Nun aber, als sie sich im Bett aufsetzte, dachte sie, es wäre doch schön gewesen, ihn näher bei sich zu spüren. Sich zwischen warmen Decken aneinanderzuschmiegen, sich der Leidenschaft hinzugeben und
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