Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
der braven Ehefrau gespielt, doch nun stieg ihre Anspannung, drohte in ihrem Kopf zu zerbersten.
Vorsichtig stellte sie die Füße auf den Boden, einen nach dem anderen, verharrte, dem leisen Schnarchen lauschend, obwohl sie doch wusste, dass die Kräuter ihre Wirkung taten.
Leise stand sie auf und ging in die Küche. Lehnte sich gegen das Fenster, fühlte die Kälte an ihrem Rücken und atmete durch. Hatte sie zuerst noch gedacht, sie könne ihre wahren Gefühle vor ihm verbergen, so wusste sie mit immer größerer Gewissheit, dass das nicht möglich war. Aber wo sollte sie hin?
Sie sehnte sich danach, mit Christoph zu sprechen, ihn um Hilfe zu bitten. Er war ein ruhiger, überlegter Mann. Während sie nicht in der Lage schien, hier, mit Johann in der Nähe, einen klaren Gedanken zu fassen, würde er ihr einen Ausweg zeigen können, dessen war sich Helene sicher.
|336| Leise schlich sie zurück ins Schlafzimmer, warf blind Kleidung in ihre alte Reisetasche, in der sie noch immer Alberts Brief verwahrte. Dann holte sie die prall gefüllte Geldschachtel unter dem Bett hervor, zog das Nachthemd aus, schlüpfte in Wäsche und Kleid, nahm den Mantel und verließ die Wohnung. Im nächtlichen Regen trat sie hinaus auf die Straße, wo sie ihren Schritt beschleunigte, bis sie endlich durch den bewachsenen Torbogen auf den Vorplatz trat, der zu Hufelands Haus führte.
»Was machen Sie hier?«, fragte dieser erstaunt, als er die Tür öffnete. Sie hatte kleine Steinchen an das einzig beleuchtete Fenster geworfen, von dem sie hoffte, dass es sein Arbeitszimmer war, und gegen den aufkommenden Wind seinen Namen gerufen, bis er den Kopf hinaussteckte. Nun stand er vor ihr, und die Überraschung war ihm ins Gesicht geschrieben.
»Kommen Sie herein«, sagte er, ohne auf die Reisetasche zu achten, die sie mit sich trug. Sie folgte ihm die breite Treppe hinauf, vorbei an Alberts Raum in Hufelands Arbeitszimmer, in dem ein großer Schreibtisch stand, an dem er wohl gerade gearbeitet hatte. Er setzte sich dahinter und wies ihr einen gegenüberliegenden Stuhl zu.
»Sie arbeiten noch bis spät in die Nacht«, stellte sie fest und legte die Tasche neben sich ab. »Wie geht es Albert?«
Ihr fiel auf, dass der Schreibtisch wohlgeordnet war. Alles hatte seinen festen Platz. Links neben der Öllampe ein Stapel mit leerem Papier, rechts die fertig beschriebenen Seiten, darüber ein ledergebundenes Buch parallel zur Tischkante. In der Mitte stand ein Fass Tinte, aus der eine Feder ragte.
»Er schläft, und ich glaube, das tut ihm gut. Im Übrigen hatte ich heute eine interessante Begegnung mit Doktor Samuel Hahnemann, einem äußerst klugen Kopf. Er war Albert vor Monaten in einer Irrenanstalt vor den Toren Leipzigs begegnet und hat angeboten, ihn sich einmal anzusehen.« Er lächelte und lehnte sich zurück. »Er hat gute Erfahrungen als Irrenarzt und sich mit der Heilung des Geheimen Kanzleisekretärs Klockenbring einen Namen gemacht. Ich bin sicher, er wird uns helfen können.«
|337| »Woher wollen Sie wissen, ob wir ihm vertrauen können?«
»Doktor Hahnemann ist ein integrer Mann. Sein Ruf als scharfsinniger Mediziner und disziplinierter Übersetzer wissenschaftlicher Schriften ist weithin bekannt.«
»Mein Gott, seien Sie doch nicht so leichtgläubig! Wir leben in einer Stadt, in der sich selbst die am meisten geachteten Menschen als Teufel erweisen, und Sie vertrauen einem Mann, dem Sie noch nie zuvor begegnet sind?«
Er sah sie überrascht an. »Vielleicht hilft es, wenn ich Ihnen sage, dass er von weit her ist und Jena nie zuvor betreten hat?« Er stockte und beugte sich vor. »Aber Sie weinen ja.«
Helene wischte die Tränen von der Wange. Wie sollte sie die Gefühle beschreiben, die auf sie einstürmten, während er von seinem Tag erzählte? »Johann ist zurück. In genau diesem Moment liegt er in der Wohnung und schläft.« Hufeland starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an und schien unsicher, wie er reagieren sollte. Schließlich streckte er seine Hand nach der ihren aus und strich sanft darüber.
Die zarte Berührung ließ sie noch lauter aufschluchzen und weckte den Wunsch in ihr, er möge sie in den Arm nehmen und einfach nur festhalten. Doch der Schreibtisch stand wie ein Monstrum zwischen ihnen, als diene er nur dazu, den Abstand zu bewahren.
Helene zog die Hand weg, stand auf, ging zum Fenster und sah in die regnerische Nacht. Draußen tobte ein Sturm, der Wind presste den Regen gegen die Scheiben und
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