Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
verheißungsvoll. Helene wischte die aufsteigenden Tränen fort. Wie nur sollte sie diese Tage überstehen?
|343| Ein Mann bog durch den Torbogen. Er war sorgfältig gekleidet, wohl nicht sehr viel älter als Hufeland, doch der aufrechte Gang und die hohe Stirn verliehen ihm etwas Gesetztes. In der Hand hielt er einen kleinen schwarzen Koffer.
Er nickte ihr im Vorübergehen zu, und gerade als er die Tür erreichte, erriet sie, wer er war. »Doktor Hahnemann?«
Der Mann drehte sich erstaunt um und kam ihr einige Schritte entgegen. »Richtig. Und darf ich auch erfahren, wer …« Er hielt inne. »Nein, warten Sie, die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Sie müssen Albert Steinhäusers Schwester sein. Professor Hufeland hat mir von Ihnen erzählt.«
»Helene Vogt, geborene Steinhäuser«, sagte sie und reichte ihm die Hand.
Hahnemann ergriff sie, gab einen formvollendeten Handkuss. »Ich bin auf dem Weg zu Ihrem Bruder. Wollen Sie mich nicht begleiten?«
»Sehr gern«, sagte Helene, und sie meinte es ernster, als es klang. Albert und seine Genesung waren nun das Wichtigste.
Das Erste, was Hahnemann auffiel, als er die Kammer betrat, war der betörend süße Geruch des türkischen Holunders, den man wohl ins Zimmer gestellt hatte, um den Kranken zu erfreuen. Sofort ging er zum kleinen Fenster, öffnete es weit und hoffte, die kühle Morgenluft würde den Duft aus dem Zimmer tragen, bevor die Sonne es erreichte und ihn mit ihrer Wärme noch verstärkte.
Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und beobachtete, wie Albert Steinhäuser regungslos an die Decke starrte. Seine Schwester strich ihm unablässig die Hand, doch er zeigte keinerlei Reaktion.
»Das sind die Nachwirkungen des Opiums«, erklärte Hufeland leise. Er hatte ihm einen kurzen Bericht gegeben, bevor sie das Zimmer betreten hatten, und Hahnemann hatte erkennen müssen, dass dem Professor nichts anderes eingefallen war, als den Patienten ruhigzustellen.
|344| »Das ist nicht zu übersehen«, antwortete er scharf.
Er schrieb ein paar Dinge in sein Heft, Kleinigkeiten, die ihm auffielen. Auch in der scheinbaren Starre des Patienten kam dessen Körper nicht zur Ruhe. Muskeln zuckten an Armen und Beinen, als führen elektrische Schläge hindurch. Dazu schien der Patient ganz in seiner Welt gefangen, mal sang er leise vor sich hin, mal rezitierte er Gedichte.
Hahnemann untersuchte Alberts Pupillen, begann dann, ihn abzutasten. An einigen Körperstellen reagierte er stark auf die Berührung, verkrampfte seine Muskeln, schrie auf und schlug um sich. Helene rückte ab, um den Schlägen zu entgehen, blieb auf der äußersten Kante sitzen, in sicherem Abstand.
»Wir kennen uns, erinnern Sie sich?«, flüsterte Hahnemann dem Kranken zu und beugte sich nahe an sein Ohr. »Sie hatten mich um Hilfe gebeten, damals, in der Anstalt. Ich werde nun versuchen, Ihrer Bitte nachzukommen.«
Albert Steinhäuser wich zurück, schlug mit der flachen Hand auf das Ohr, starrte ihn dabei mit weiten Pupillen an. Doch es gab kein Zeichen des Erkennens.
Es war schlimmer, als er gedacht hatte. Hufeland hatte ihn um Rat gebeten, und nun sah er, dass es nicht bei einer Empfehlung bleiben konnte. Der Zustand war ernst, und es würde, wenn nicht ein Wunder geschah, sicher Wochen dauern, ihn zu behandeln, wenn nicht gar Monate.
Er erzählte Hufeland von seinen Überlegungen.
»Monate?«, fragte dieser sichtlich bestürzt.
»O ja«, sagte Hahnemann. »Und nehmen Sie es mir nicht übel, aber das ist doch offensichtlich, meinen Sie nicht?«
»Ich hatte es vermutet. Aber ich habe Verpflichtungen, wie kann ich dem nachkommen?«
»Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen bei der Pflege des Kranken helfen. Aber nur für zwei, vielleicht drei Wochen, dann muss ich zurück nach Georgenthal. Bis zum ersten Juli soll ich für meine Familie eine neue Unterkunft gefunden haben. Meine Frau wird es mir nicht verzeihen, wenn ich in dieser Sache untätig bleibe.«
|345| Hufeland war sichtlich erleichtert. »Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen. Wie kann ich Sie entlohnen?«
»Wir werden einen Weg finden. Vielleicht geben Sie mir für den Anfang ein Zimmer in Ihrem Haus, dann spare ich die Kosten für die Herberge.«
Hufeland nickte.
»Es gibt einige Dinge, die ich für den armen Kerl tun kann«, fuhr Hahnemann fort. »Und seien Sie versichert, ich werde ihn nicht mit den üblichen Methoden behandeln, die den Geist entweder entmündigen oder gar versuchen, ihn mit Gewalt seiner eigenen Welt
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