Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
sie in Berlin angekommen war. Fortan, so hatte sie Helene erzählt, wolle sie sich jeden Donnerstag einen geistig und künstlerisch inspirierten Kreis schaffen, der sich mit nützlicher Lektüre befasste und den Herren Konkurrenz machte, die sich in den Konditoreien zum Diskurs mit Literaten und Gelehrten trafen. Statt eines Literaten jedoch, der die Gäste mit allzu selbstgefälligem Geschwätz langweilen mochte, wollte sie sich lieber einen Überraschungsgast der besonderen Art einladen, der |107| über weit interessantere Dinge zu berichten hatte und mehr den weiblichen Geschmack traf.
»Haben Sie eine Schriftstellerin geladen oder gar eine Sängerin?«, hatte Helene am Morgen gefragt und sich auf die Abwechslung gefreut, die dieses Treffen versprach.
»Das wirst du schon sehen. Ich bin sicher, es wird den Damen viel Freude machen«, war Augustes ausweichende Antwort. »Deine Aufgabe wird es sein, in der Konditorei Sprugasci Gebäck zu besorgen und englischen Tee zu brühen. Du wirst die Gäste an der Tür empfangen, Speisen und Getränke servieren und dich ansonsten in der Küche bereithalten, falls man deine Dienste benötigt.«
So blieb Helene nichts anderes übrig, als ihre Neugier zu zügeln, ihren Pflichten nachzukommen und auf den Nachmittag zu warten. Dann, endlich, klopfte es an der Tür, und sie ließ die ersten Damen herein.
Auguste hatte ihre Haare heute besonders kunstfertig getürmt und erinnerte mit ihrem blass gepuderten runden Gesicht an die porzellangesichtigen Puppen, die sie auf dem Tafelklavier in der Stube drapiert hatte.
»Ah, wie ich sehe, hast du ein neues Mädchen. Ist sie nicht ein wenig jung?«, fragte eine Dame mit gütigem, wenngleich beschränktem Ausdruck und folgte, ohne die Antwort abzuwarten, den anderen in die große Stube, wo sie aufgeregt schwatzend Platz nahm. Man plauderte über Kunst und Philosophie und über das trockene Gebäck, für das der Konditor zweifellos zu viel berechnet hatte. Eine der Damen setzte sich an das Klavier und spielte eine beschwingte Weise.
Endlich traf auch der Gymnasiast ein, der heute aus Rousseaus
Julie oder die neue Heloise
vorlesen sollte. Auguste schloss die Tür zur Stube, und Helene ging in den hinteren Teil der Wohnung, um auf weitere Anweisung zu warten.
Die Küche lag im Halbdunkel. Vor dem Fenster stand ein Ahornbaum, dessen Blätter bereits zur Hälfte gefallen waren. Dahinter erstreckte sich der weite Himmel, dessen Farbe langsam in ein trübes Grau wechselte.
|108| Sie setzte sich auf einen Stuhl und wippte mit den Füßen. Aus der Stube klang das Lachen der Damen, das Klappern der Teetassen. Niemand hatte nach ihrem Namen gefragt oder nach ihrer Herkunft. Aber was interessierte das die Damen der besseren Gesellschaft, nun war sie nicht mehr die Tochter des Apothekers, nun war sie das Dienstmädchen. Dienstmädchen und Köchin zugleich, denn nachdem Auguste in Erfahrung gebracht hatte, dass Helene sich auf das Zubereiten von Speisen verstand, hatte sie die soeben einbestellte Köchin gleich wieder gehen lassen.
Helens Blick fiel auf den gusseisernen Herd, auf dem noch ein schmutziger Topf stand, daneben ein kunstvoll bemalter Porzellanteller mit Resten vom Sauerfleisch. Sie überlegte, es zu essen. Es würde reichen, ihr Magen war in den letzten Tagen, in denen sie sich von Augustes Essensresten ernähren musste, genügsamer geworden. Sie stand auf und schlang das kalte Fleisch in wenigen Bissen hinunter, dabei tropfte ein wenig Sauce auf den Boden. Hastig griff sie nach einem Tuch und wischte über die braunroten Fliesen. Dabei entdeckte sie eine Scherbe, die sie wohl übersehen haben musste. Heute Morgen war ihr ein Krug zerbrochen. Auguste hatte es nicht gehört, also hatte Helene die Stücke rasch zusammengefegt und in der Speisekammer verborgen. Hastig hob sie die Scherbe auf, öffnete das Fenster und warf sie hinaus.
»Helene!« Augustes Stimme drang scharf aus der Stube. Rasch schloss sie das Fenster und lief durch den langen Flur. »Helene, hast du das Klopfen nicht gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. Auguste maß sie mit abfälligem Blick, dann schloss sie die Stubentür mit lautem Schwung.
Im Hausflur stand eine ältere, einfach gekleidete Frau mit faltigem Gesicht und hochgestecktem schwarzen Haar, über das ein großes Tuch gelegt war wie ein Schleier.
»Frau von Rückertshofen bat mich, als Gast teilzunehmen. Ich soll in der Küche warten, bis man mich ruft«, sagte sie mit rauer Stimme und stellte sich als
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