Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Madame Irmeline vor.
Augustes lautes Lachen scholl wie ein Wiehern durch den Flur, als Helene die Frau in die Küche führte. Sie entzündete ein Talglicht, |109| das in der Mitte des Tisches aufgepflanzt war, und bat die Frau, sich auf einen der Holzstühle zu setzen. Dann bot sie ihr einen Tee an. Madame Irmeline schlürfte geräuschvoll, während sie sie mit dunklen Augen fixierte.
Helene fühlte sich unbehaglich. »Noch etwas Tee?«, fragte sie, kaum dass die Frau ihre Tasse abstellte.
»Danke, Marjell«, sagte diese lächelnd. »Aber ich habe noch nicht einmal ausgetrunken.«
Marjell. Mädchen. Helene erblasste beim vertrauten Singsang ihrer Heimat. »Woher wissen Sie …«
»… woher du kommst?«, ergänzte Madame Irmeline und schüttelte langsam den Kopf. Dann nahm sie ihre Hand und strich über die Linien der Innenfläche. »Du bist hier nicht glücklich, ich sehe es dir an. Lass mich sehen, was ich für dich tun kann.«
Sie fuhr mit der Hand in eine kleine Tasche, die an der Schlaufe des Rockbundes befestigt war, und zog ein bebildertes Kartendeck heraus.
Helene zuckte zurück. »Nein, das will ich nicht!«, sagte sie entschlossen.
Aber Madame Irmeline lachte nur und erklärte mit rauer Stimme: »Keine Sorge, Marjell, das ist keine Hexerei. Das Tarot ist zweihundert Jahre nach der Sintflut von siebzehn Weisen unter der Aufsicht des ägyptischen Gottes Thot erschaffen worden.« Ihre Augen glänzten. »Die Damen der Gesellschaft sehen es als netten Zeitvertreib. Aber es ist mehr als das. Es ist etwas Heiliges.«
Thot. Dieser Name klang vertraut. Sie hatte ihrem Vater oft bei der Arbeit zugesehen, und manchmal hatte er ihr von alten Mysterien erzählt, von alchemistischen Symbolen und deren Bedeutungen. Vom ägyptischen Gott Thot hatte sie ihn mit Ehrfurcht sprechen hören, wenn er sich Texte aus den hermetischen Schriften erschloss. Sie rutschte nach vorn auf die Stuhlkante, die Hände zusammengepresst. »Hat Auguste Sie herbestellt, um den Damen die Zukunft voraussagen zu lassen?«, fragte sie verwundert.
Madame Irmeline lächelte, und als sie antwortete, klang ihre |110| Stimme noch rauer. »Für Frau von Rückertshofen ist es nur ein Gesellschaftsspiel. Man muss aufpassen, was man sagt. Ich sehe alles klar und deutlich vor mir liegen, aber die Wahrheit ist nichts, was man den Damen offen sagen darf.« Sie blinzelte ihr zu. »Zumindest nicht ungeschönt. Der Mann, den eine der Damen ehelichen will, wird sie schlagen und ihr Vermögen veruntreuen? Ich sehe es. Aber soll ich das erwähnen? Sie würden mich hinausjagen und nicht bezahlen, so sind die Menschen eben.«
Sie trank ihren Tee und begann, die Karten zu mischen. Der Wind rüttelte an den Fenstern und ließ die Flamme der Kerze in einem gewaltigen Luftsog erzittern, geschmolzenes Fett lief die Seiten des Lichts hinunter und bildete kleine Figuren.
Madame Irmeline hielt die Augen geschlossen, bewegte die Karten rasch und sicher. Mit halb geschlossenen Lidern hielt sie Helene die Karten hin. »Wähle drei«, flüsterte sie.
Plötzlich hatte Helene Angst, was die Wahrsagerin ihr wohl erzählen mochte, und sie verschränkte die Arme. Nein, sie wollte es lieber gar nicht wissen.
»Marjell. Hab keine Sorge. Es kostet dich nichts. Ich weiß, dass du dich danach sehnst, etwas über deinen Bruder zu erfahren.«
Helene erschrak. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Es war, als wäre noch etwas anderes in der Küche, das hier, in diesem Augenblick, neben ihnen Platz genommen hatte. Sie sah sich um. Schatten tanzten im Raum und flackerten im Kerzenlicht. Erst beim genaueren Hinsehen erkannte sie darin die Verlängerung von Gegenständen. Töpfe und Becher. Sie fuhr sich mit der Hand über die Brust und schlug das Kreuz. Dann straffte sie den Rücken. »Die Wahrheit«, sagte sie mutig, obgleich ihr Herz zu zerspringen drohte.
»Die Wahrheit«, flüsterte Madame Irmeline. »Drei Karten.«
Helene zog aus dem angebotenen Kartenfächer, und Madame drehte die Karten um. »Du bist am falschen Ort.« Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Dir wird verwehrt, deinen Weg zu gehen, doch wenn du nicht zeitig zum Ziel kommst, vergehen viele Jahre, bis die Wahrheit ans Licht kommt.«
|111| Ein heftiges Zittern ergriff Helene, und sie schlang die Arme um ihren Körper. Jena. »Aber wie soll ich es schaffen?«
»Vertraue deiner inneren Stimme. Glaube an deinen Mut.« Die Wahrsagerin zog nun selbst drei Karten.
»Was ist mit meinem Bruder?«
Madame
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