Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
tränennassem Gesicht an. »Sie haben mir doch versichert, es seien keine Geister, nicht wahr?«
Er blickte sie zerstreut an. »Ja«, sagte er leise, während er sich das angenehme Leben ausmalte, das ihn erwartet hätte, wäre er in den Diensten des Baron von Brukenthal geblieben. Aber nein, er hatte ja unbedingt promovieren wollen, um das Studium mit Titel abzuschließen. Und nun saß er in einem Dorf voller ungebildeter Kreaturen und musste sich als Scharlatan beschimpfen lassen!
Er ging hinaus in die Küche, nahm die Schale, die Pfarrer Ebers geleert hatte, und schleuderte sie gegen die Wand, wo sie in zahlreiche Scherben zersprang und einen hässlichen braunen Fleck hinterließ, der in kleinen Bächen zu Boden rann. Diese Narren!
Sollte er hierbleiben, sich behaupten, allen beweisen, welchem Irrtum sie erlagen? Noch während er darüber nachdachte, wusste er, dass er weiterziehen würde.
Doch wohin ohne Anstellung, ohne Geld? Dieses durch Machthunger und dynastische Ansprüche in lachhafte Schnipsel geteilte Land! Ein guter Wanderer, so sagte man, brauche nicht mehr als zwölf Stunden, um durch vierundzwanzig Vaterländer zu gelangen. Wo aber lag seine Heimat?
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BERLIN
21. BIS 28. OKTOBER 1780
Die Berliner Wohnung, die Auguste von Rückertshofen in den Herbst- und Wintermonaten bewohnte, war großzügig geschnitten, doch lag sie nach Norden und wurde nie richtig hell. Die üppig bedruckten Tapeten und schwarzen Holzbalken verstärkten diesen Eindruck, dazu dunkle Möbel, die alles vollgestellt und eng erscheinen ließen.
Wenn Helene dachte, ihre Brust müsse zerspringen zwischen ausgestopften Fasanen, kulleräugigen Puppen und Kissen mit Brokatblumen, dann stellte sie sich ans weit geöffnete Fenster der Küche, atmete tief ein und blickte über die Häuser hinweg über die Bäume bis zum Himmel, der unermesslich fern schien.
In den ersten Tagen nach der Ankunft war ihr die Stadt wie ein großes Ungeheuer erschienen, das alles verschlang. Laut und gierig und stinkend. Für ein junges Mädchen galt es als unschicklich, sich allein auf den Straßen zu bewegen. Und so graute es Helene jedes Mal vor dem Weg, wenn Auguste sie zum Kaufmannsladen schickte oder in die Konditorei eines Schweizer Zuckerbäckers, der in seinem Geschäft die feinsten Gebäck- und Konfektspezialitäten verkaufte. Es dauerte nicht lange, da beherrschte sie jene Haltung der Dienstmädchen, die es stumm und stolz ertrugen, wenn die vornehmen Herren im Vorübergehen wie Gassenjungen pfiffen oder Obszönitäten riefen. Und vor allem lernte sie, rasch zu gehen, ohne sich umzudrehen, geradewegs zurück in die Wohnung, die ihr keine Heimat, aber Zuflucht war.
Der enge Hängeboden, in dem Helene ihre Schlafstatt hatte und den sie über eine kleine Leiter in der Speisekammer erreichte, bot kein Licht, doch Abgeschiedenheit, in der sie ihren Tränen freien Lauf lassen konnte.
|106| Seitdem sie in Berlin war, schien Jena ferner als je zuvor. Es hatte sich herausgestellt, dass Auguste gar nicht daran dachte, ihr den Pass zurückzugeben. Jedenfalls nicht gleich.
»Wie kannst du das von mir erwarten«, hatte sie ausgerufen und dabei die Lippen geschürzt. »Glaubst du wirklich, es wäre mit ein paar Tagen Arbeit getan? Zuerst musst du deine Schulden abarbeiten, die du mit der von mir bezahlten Reise gemacht hast. Und da sind ja auch die Kosten für deine neue Ausstattung, und die waren gewiss nicht unerheblich.«
Helene hatte genickt und an sich heruntergeblickt. Ein adrettes schlichtes Kleid, die gestärkte Schürze, ein sauberes Paar Schuhe. »Ja, das sehe ich ein, und ich bin auch bereit, hart dafür zu arbeiten. Dennoch möchte ich wissen, wann diese Schulden abgetragen sein werden.«
»Das muss man sehen«, hatte Auguste unwirsch geantwortet. »Das kommt ganz auf deinen Fleiß an.«
Helene schluckte ihren Ärger herunter. Ohne Pass würde sie die zahlreichen Zollschranken nicht passieren können, die zwischen Berlin und Jena lagen. Zudem brauchte sie Geld, um sich diese weitere Reise leisten zu können. Sie dachte an den Brief, den sie in der Reisetasche gefunden hatte und den sie nun beinahe auswendig kannte. Was nützte es, erst nach Wochen oder gar Monaten nach Jena zu reisen, was gab ihr die Gewissheit, dass Albert noch dort wäre? Ach, gäbe es doch einen Weg, das herauszufinden!
Es war ein sonniger Nachmittag, als die ersten Damen des literarischen Salons eintrafen, den Auguste von Rückertshofen einberufen hatte, kaum dass
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