Die Alchemie der Naehe
hat sich gerächt. Eine tolle Vor stellung, die ich da abgeliefert habe!« Ihre Enttäuschung schien regelrecht ansteckend zu sein, denn plötzlich erfüllte auch dich pure Verzweiflung.
»Ich bin zu blöd: Nur wegen dieses dummen Fehlers kann ich jetzt bestimmt fünfzig Tage lang nicht trainieren«, sagte sie. »Von der Reha ganz zu schweigen. Ist dir eigentlich klar, dass ich mehr oder weniger bis Januar ausfalle?«
»Du warst nicht blöd«, sagtest du. »Du warst super, bis du einfach Pech hattest. AuÃerdem wird das schon wieder, und das weiÃt du genau.«
»Von wegen«, sagte sie seufzend. »Das wohl kaum. Du bist ein Lügner.« Tja, höchstwahrscheinlich stimmte das sogar, und dich beschlich die Ahnung, dass es nicht so glatt laufen würde wie gedacht. Du sahst es schon vor dir das Loch, in das Selvaggia fallen würde, wenn sie auch nur vorübergehend auf ihr heià geliebtes Hobby verzichten musste. Du kamst einfach nicht umhin, Komplikationen zu wittern.
Vor allem in den ersten Tagen stand ihr die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Sie war die ganze Zeit ans Bett gefesselt, hatte keinen Appetit und kaum Lust auf Gesellschaft. Kamst du zu ihr ins Zimmer, in dem es rund um die Uhr totenstill war, sahst du nur, dass sie stur aus dem Fenster starrte. Sie lenkte sich weder mit Lesen noch mit Fernsehen ab, und das beunruhigte dich, weil es bewies, wie verzweifelt deine Schwester war. Wenn du ausnahmsweise länger bliebst und sie genauer ansahst, entdecktest du fast nur Wut und Enttäuschung in ihrem Gesicht. Sie hatte Schmerzen, war wütend auf sich und die ganze Welt. Weil du es nicht aushieltst, sie so deprimiert zu sehen, tatst du alles, um sie aufzumuntern. Die Tröstungsversuche eurer Mutter dagegen schienen sie nur nervös zu machen, statt ihr zu helfen.
Selvaggia war wütend auf sie, warf ihr vor, einen auf Freundin zu machen, sie aber letztlich im Stich zu lassen: Es bringe nun mal nichts, sich als Freundin auszugeben, wenn man als Elternteil nie wirklich da sei. Du selbst konntest das nur schwer nachvollziehen, weil du mit deinem Vater nie solche Probleme gehabt hattest. Aber natürlich wäre es dir auch lieber gewesen, deine Mutter hätte mehr Präsenz gezeigt â obwohl Selvaggia und du ziemlich eigenständig wart.
Genauso überflüssig wirkten die unbeholfenen, wenngleich gut gemeinten Zuwendungsbekundungen deines Vaters, der sich zwar redlich bemühte, auf Selvaggia jedoch einfach nur albern wirkte. Der Ãrmste tat dir fast schon leid. Es war bestimmt nicht leicht, seit gerade mal fünf Monaten eine spätpubertäre Tochter zu haben: zum einen weil er sie kaum kannte, zum anderen weil er nicht davon ausgehen konnte, dass sie ihm aufrichtige Gefühle entgegenbrachte. Daher warst du nach wie vor der Einzige in eurer Familie, den die Unglückliche wirklich an sich heranlieÃ.
56
Anfangs war es besonders schwer, weil du nicht recht wusstest, wie du dich ihr gegenüber verhalten solltest. Auch wenn es kein sehr passendes Gefühl einer Geliebten gegenüber war, hattest du in den ersten Tagen einfach bloà Mitleid mit ihr. Bisher hattest du sie nur dynamisch und voller Lebenslust erlebt, sodass es dir schwerfiel, ihre resignierten Seufzer wegen einer falschen Bewegung, wegen eines verhängnisvollen Zögerns nachzuvollziehen.
Du tatst, was du konntest, aber Selvaggia reagierte schon gereizt, wenn du ihr nur beim Aufstehen halfst. Du halfst ihr gerade aus dem Auto, als eine Krücke wie absichtlich zwischen Tür und Karosserie hängen blieb. Selvaggia weigerte sich, deine Hilfe anzunehmen. »Ich weià selbst, dass ich ein Problem habe«, sagte sie. »Hör bitte auf, mich immer wieder daran zu erinnern!«
Diese Worte fielen bei dir auf fruchtbaren Boden, und da ändertest du dein Verhalten und nahmst die Krücken nicht mehr nur als Handicap wahr. Anfangs hattest du das Ganze einfach nur lästig gefunden. Doch dann begriffst du, dass es auch eine Möglichkeit sein konnte, ihr näherzukommen. Da lerntest du, ihr zu helfen, ohne sie das spüren zu lassen. Wenn du ihr mit winzigen, selbstverständlichen Gesten Hindernisse aus dem Weg räumtest, verkniffst du dir inzwischen den Blick eines geprügelten Hundes und bemühtest dich stattdessen um einen Hauch von Galanterie, der ihr durchaus gefiel. Ja, sie zeigte sich sogar dafür erkenntlich, indem sie
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