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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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die erste Reihe zu setzen. Stattdessen lehntest du am dir bereits vertrauten Absperrgitter, das den Zuschauerbereich von der Bühne trennte. Während ihr die Scheinwerfer aufmerksam folgten, ging alles ganz schnell. Nicht einmal du hättest was bemerkt, wenn dir nicht plötzlich aufgefallen wäre, dass sie weinte: eine Pirouette, das hoch in die Luft geworfene Band, ein Sprung, um es wieder aufzufangen, und dann die Drehung, bei der sie stürzte.
    Erst als du sahst, dass sie nicht mehr aufstand, beziehungsweise erst, als die Ärmste den rechten Knöchel mit beiden Händen umklammerte und vor lauter Schmerzen die Zähne zusammenbiss, sprangst du über die Absperrung und beeiltest dich, ihr aufzuhelfen.
    Die Musik verstummte, und Gemurmel wurde laut, während du neben ihr knietest. »Selvaggia, Liebling, das ist bestimmt nichts Schlimmes«, sagtest du beschwichtigend, strichst ihr den Pony aus der Stirn und fuhrst ihr zärtlich über das Gesicht.
    Sie weinte lautlos, wiegte sich in der Hocke vor und zurück, weil es so wehtat – aber bestimmt auch aus Enttäuschung darüber, dass eine falsche Bewegung so böse Folgen gehabt hatte.
    Du konntest ihr gerade noch die ersten von endlos vielen Tränen trocknen, als zwei Rotkreuzhelfer kamen und ihren Knöchel mit Eisspray behandelten, bevor sie Selvaggia auf eine Trage legten und zu den Umkleiden brachten.
    Eure Mutter hatte deinen Vater und dich hinausgeschickt, bevor sie Selvaggia beim Umziehen half. Ihr würdet sie dann zum Röntgen in die Notaufnahme bringen. Papa wartete im Wagen, während du vor der Tür ausharrtest. Als du schweren Herzens mit anhörtest, wie sie vor Schmerzen stöhnte, war dir die geringe Entfernung zwischen euch, die schlichte Wand, die euch trennte, auf einmal unerträglich.
    Irgendwann kam eure Mutter heraus und bat dich, Selvaggia zum Auto zu tragen. Sofort eiltest du zu ihr, und als du sahst, wie untröstlich sie war, wusstest du kaum noch ein und aus. »Ich trage dich zum Auto, mein Schatz, einverstanden?« Du zwangst dich zu einem aufmunternden Lächeln. Sie nickte nur, und du hobst sie mühelos hoch, während sie sich an dich klammerte, die Augen schloss und ihren Kopf an deine Brust schmiegte.
    Als du sahst, wie sie sich an dich kuschelte, warst du ganz gerührt. Seit zwei Stunden saß sie nun schon auf dem unbequemen Stuhl in der Notaufnahme und hatte das Bein mit dem schmerzenden, geschwollenen Knöchel hochgelegt, während ihr Kopf in Ermangelung eines Kissens auf deiner linken Schulter ruhte. Nicht ein einziges Mal beklagte sie sich, dass sie unbequem saß, nur hin und wieder hörtest du sie vor Schmerzen wimmern. Als man sich endlich dazu herabließ, sie zu untersuchen, war es halb zehn.
    Die Diagnose ließ nicht lange auf sich warten, und der Be fund lautete, dass das Außenband ihres Knöchels fast zur Hälfte eingerissen war. Das hieß: mit Eis kühlen, einen Entzündungshemmer einnehmen und das Bein die ersten Tage nicht belasten. Anschließend würde es für vier Wochen ruhiggestellt, gefolgt von mindestens zwei Wochen Reha.
    Zu Hause half eure Mutter Selvaggia dabei, sich zu duschen und sich für die Nacht fertig zu machen. Immerhin durftest du Selvaggia in ihr Zimmer bringen. Vorsichtig legtest du sie aufs Bett und schobst ihr liebevoll ein Kissen unter den verletzten Knöchel, während sie den Entzündungshemmer in einem Glas mit Wasser auflöste.
    Eure Eltern sagten Gute Nacht und forderten dich ebenfalls zum Gehen auf.
    Aber Selvaggia wollte, dass du noch kurz bliebst. Also schlossen sie die Tür und ließen euch allein.

55
    Â»Nimm mich in den Arm«, sagte sie nur, ohne dir in die Augen zu sehen. Den Blick stur aufs Fenster gerichtet, starrte Selvaggia in die beklemmende Dunkelheit eines fernen, sternenlosen Himmels hinaus. Da legtest du dich neben sie aufs Bett und nahmst sie in die Arme. Du konntest ihre Niedergeschlagenheit körperlich spüren und kamst dir so hilflos vor, weil du nicht in der Lage warst, etwas gegen ihren Schmerz zu unternehmen. Du konntest sie bloß umarmen, ihr tröstende Worte zuflüstern und ihr zärtlich über das Gesicht streichen.
    Â»Es war schrecklich«, sagte sie schließlich nach langem Schweigen, während sie nach wie vor aus dem Fenster starrte. »Alles lief bestens, aber dann habe ich das Band falsch geworfen, und mein blöder Knöchel

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