Die Alchemie der Naehe
zogst eine Camel light aus der Packung, stecktest sie zwischen die Lippen, erhobst dich vom Tisch, um nach dem Feuerzeug zu suchen, fandst es, zündetest dir die Zigarette an und nahmst einen Zug. Ehrlich gesagt warst du belustigt. In Wahrheit ärgerte dich das Verbot, das Selvaggia dir auferlegen wollte, kein bisschen â ja es amüsierte dich eher. Sie verbot dir, mit deinen Freunden auszugehen, was dermaÃen anmaÃend war, dass du es fast schon wieder lustig fandst.
»Doch nicht etwa, weil du Angst hast, es könnten andere Mädels da sein, für die sich meine Wenigkeit interessiert?«, sagtest du aufs Geradewohl. Manchmal verbarg sich Verletzlichkeit hinter ihren Gemeinheiten, unter Umständen sogar ein vernünftiger Grund, aber so genau konnte man das nie wissen. Mit ihrer arroganten, durchtriebenen Art versuchte sie nur, sich vor Dingen zu schützen, die ihr wehtaten.
Jedenfalls sagte Selvaggia (nur noch mal fürs Protokoll): »Quatsch, soll das ein Witz sein? Und selbst wenn, was wäre so schlimm daran? Wie kommst du bloà darauf?«
Noch nie hattest du sie so verlegen, ja mit so hochroten Wangen erlebt, wodurch sie plötzlich aussah wie ein schüchternes Schulmädchen. Um ihre wahren Gefühle zu verbergen, nahm Selvaggia einfach ihren Teller, kehrte dir den Rücken zu und aà mit Blick auf die Geschirrspülmaschine. Du lieÃt sie nicht aus den Augen und lachtest insgeheim über ihre AnmaÃung, hinter der sich nichts als Liebe verbarg.
Nur noch mal fürs Protokoll: Am Ende gabst du Selvaggia nach und beschlosst, nicht mit deinen Freunden wegzugehen. Aber verplempern wolltest du deinen Nachmittag auch nicht. Gegen vier war sie ausgehfertig. Sie verabschiedete sich kühl, so als befürchte sie, du könntest sie doch noch am Gehen hindern. Du hast indes nur eine Verbeugung angedeutet und ihr viel Spaà gewünscht.
Kaum warst du allein, wolltest du die Gelegenheit nutzen und für die Schule lernen, dich mit etwas beschäftigen, das nicht Selvaggias Schrank war, der dich immer wieder faszinierte. Doch es gelang dir einfach nicht, diesem Wunderland zu widerstehen. Kaum machtest du seine Türen auf, fielst du in eine völlig neue Welt und wurdest umgehend von Unmengen bunter Kleider umhüllt. Für jeden Geschmack war etwas dabei, und wenn du genauer hinsahst, entdecktest du jedes Mal einen Pulli, einen Rock oder eine Bluse, die du noch nicht an ihr gesehen hattest.
Dann nahmst du die neuen Sachen aus dem Schrank und legtest sie ihr aufs Bett, zum Zeichen, dass du sie darin sehen wolltest. Und gleich am nächsten Tag zog sie sie an, um dir eine Freude zu machen, wie in einem stummem Tausch. Und wenn dich dein Verlangen dazu brachte, etwas gewagter zu werden, legtest du ihr einen BH und ein Höschen aufs Bett â wohl wissend, dass sie sich dadurch geschmeichelt fühlte. Sie dagegen gewöhnte sich an, dir ein Buch auf den Nachttisch zu legen: Die Fabel von Amor und Psyche von Apuleius zum Beispiel, Rot und Schwarz von Stendhal oder zeitgenössische Romane wie Envious Moon von Thomas Greene. Sie interessierte sich ohnehin mehr für Bücher als gedacht und markierte die Passage, die du lesen solltest, indem sie einen Stift zwischen die Seiten legte.
Beim nächsten Wiedersehen spracht ihr über die von ihr ausgewählten Stellen.
Und trotz deiner guten Vorsätze, ja entgegen deiner ursprünglichen Absichten lerntest du nicht etwa, sondern verbrachtest den Nachmittag damit, ihren Schrank zu erkunden und an sie zu denken. Erst als du merktest, dass diese verdammte innere Leere niemals weggehen würde, wenn du zu Hause bliebst, beschlosst du aufzubrechen.
Du nahmst deinen Geldbeutel und die Hausschlüssel und machtest dich auf den Weg ins Zentrum, um nach ihr zu suchen. Auf keinen Fall wolltest du ihr ihren Freundinnennachmittag verderben. Du wolltest bloà wissen, wo sie steckte, ob sie sich amüsierte und worüber sie mit ihren Klassenkameradinnen redete. Was hättest du nicht darum gegeben zu erfahren, was sie über dich sagte! WeiÃt du noch?
In dieser Verfassung erreichtest du die Piazza delle Erbe, wo du nach mehreren vergeblichen Fahndungsaktionen nur den Blick der Dante-Statue auf dir spürtest, die dich feindselig musterte. Daraufhin nahmst du Kurs auf die Piazza Bra in der Hoffnung, dort mehr Glück zu haben.
Auch an diesem Samstag war die Piazza proppenvoll. Langsam liefst
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