Die Alchemie der Naehe
vor, klein bei zu geben, obwohl sie die Nase inzwischen gestrichen voll hatte. Du warst seit Neuestem der Sündenbock, was dich in eine höchst unangenehme Lage brachte und dir Beklemmungen verursachte.
Eure Mutter tat alles, um dich von Selvaggia fernzuhalten, indem sie wahlweise ihre Tochter oder dich irgendwohin mitnahm. Gleichzeitig band deine Schwester dich mit tausend Ausreden immer mehr an dich. Du warst gewissermaÃen das Streitobjekt zweier Frauen, die an ihrem Hass aufeinander förmlich zu ersticken drohten. Euer Vater sah diesem Kalten Krieg fassungslos zu, fragte sich und manchmal auch dich, ob alles in Ordnung sei oder etwas nicht stimme. Natürlich sei alles bestens, besser könne es gar nicht laufen, sagtest du, wobei er gar nicht zu merken schien, dass deine Worte nur so trieften vor Ironie.
Der schlimmste Moment des Tages war das Abendessen, sodass ihr darum batet, auswärts essen zu dürfen, um den bösen Blicken eurer Mutter zu entgehen.
An einem stinklangweiligen Nachmittag, als Selvaggia und du gerade im Wohnzimmer saÃt und last â du zum x-ten Mal Geblendet und betrogen von Mario Rigoni Stern und sie Madame Bovary von Gustave Flaubert â, riss euch die angespannte Stimme eurer Mutter aus der Lektüre, und ihr Schatten fiel auf euch.
»Selvaggia, wollen wir reden?«
Selvaggia zeigte keinerlei Reaktion. Ohne sie einer Antwort zu würdigen, las sie den Absatz zu Ende, bevor sie sich extrem ungehalten zu ihr umdrehte.
»Nein danke«, sagte sie.
Daraufhin stieà eure Mutter einen traurigen Seufzer aus. Seit ein paar Tagen tat sie dir fast schon leid. Hinter ihren Versuchen, die Autorität zu wahren, verbarg sich sicherlich auch die Sorge, dass es ihren Kindern nicht gut ging. Da war sie genau wie Selvaggia, die ebenfalls zu drastischen Mitteln griff, wenn sie vor etwas Angst hatte. Sie suchte nach einer Lösung, nur dass ihr Versuch, euch zu trennen, genau das Gegenteil bewirkte. Obwohl sie ziemlich umtriebig auf euch wirkte, war das für sie die einzige Möglichkeit, etwas gegen ihre Angst vor einer aus ihrer Sicht viel zu engen Beziehung zu unternehmen. Gleichzeitig konnte sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was wirklich zwischen euch lief.
»Im Ernst, ich muss mit dir reden«, sagte sie fast schon flehend.
»Aber ich nicht«, erwiderte Selvaggia.
Daraufhin setzte sich eure Mutter aufs Sofa.
»Willst du denn gar nicht wissen, was ich dir zu sagen habe? Es dauert auch nur eine Minute.«
»Von mir aus, wenn du dich beeilst«, gab Selvaggia zurück. »AuÃerdem will ich, dass Giovanni dabei ist«, sagte sie mit Nachdruck.
»Na gut«, meinte Mommy Antonella. »Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass du so unter mir gelitten hast. Ich weiÃ, dass das jetzt nichts mehr ändert, und du mir vermutlich nicht glaubst. Aber ich habe wirklich versucht, mein Bestes zu geben und dir eine gute Mutter zu sein. Doch auch wenn ich mich noch mehr bemüht, ja mich selbst übertroffen hätte, wäre das vermutlich nicht genug gewesen. Ich scheine kläglich versagt zu haben, trotzdem begeh bitte nicht den Fehler und schlieÃe daraus, dass ich dich nicht liebe. Du bist für mich das Wichtigste überhaupt. Und dasselbe gilt auch für dich, mein lieber Giovanni: Obwohl ich weit weg war, habe ich nie aufgehört, dich zu lieben. Dass ich mir in letzter Zeit eingebildet habe, euch trennen zu müssen, war ein Fehler. Auch mir ist jetzt klar geworden, wie absurd und grausam das ist â ausgerechnet jetzt, wo ihr euch wiedergefunden habt und euch so nahe seid. Bitte verzeiht mir.« Sie schwieg nachdenklich, ohne dem noch etwas hinzuzufügen. Sie bemühte sich nur, ihre Niederlage zu verarbeiten, denn bestimmt war es demütigend für sie, ihren Stolz hinunterschlucken zu müssen. Natürlich bekamst du sofort Mitleid mit ihr und wolltest dich wieder mit ihr versöhnen.
»Ehrlich Mama«, sagtest du und versuchtest zu retten, was zu retten war, bevor Selvaggia sich einmischte. »Mach dir darüber mal keine Sorgen â¦Â«
»Und? Sonst noch was?«, sagte deine Schwester und brachte dich mit ihrer hochnäsigen Art zum Schweigen.
Eure Mutter schüttelte den Kopf.
»Gut, dann können wir ja gehen. Kommst du mit?«, fragte Selvaggia strahlend auf dem Weg nach oben, um sich ausgehfertig zu machen.
»Ja, ich komme«, erwidertest du erstaunt. Das
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