Die Alchemie der Naehe
Siehst du, es gibt sie. Und sie ist nur für mich da.
Und Selvaggia? Sie strahlte förmlich. Noch nie zuvor war sie dir gegenüber so aufmerksam, entgegenkommend und liebevoll gewesen. Dieser nicht endende Traum, den du mit offenen Augen träumtest, war so lebhaft, dass euch fast schwindelig wurde vor Glück.
Du wickeltest den Weihnachtsschmuck aus, und wenn man dich so in deinem Glück sah, blutete einem schier das Herz. Wenn man sich dann noch bewusst machte, was mit euch los war, stockte einem fast schon der Atem beim Anblick des noch ungeschmückten, aber bereits am Fenster stehenden Baums, der so groà war, das er fast die halbe Scheibe einnahm.
Eure Eltern waren Arm in Arm verschwunden, um Einkäufe zu erledigen â was für welche wusstest du nicht, und es war dir auch egal. Weil Selvaggia und du das Haus jetzt ganz für euch allein hattet, fühltet ihr euch deutlich freier. Jedenfalls trug sie ihr Haar offen und hatte einen alten Pulli von dir an und dazu erstaunlicherweise Pantoffeln. Der Pulli war so groÃ, dass er ihr bis übers Knie reichte, und so weit, dass sie beinahe darin ertrank. Aber sie liebte es, ihn zu tragen, und weil sie deine Blicke spürte, lief sie rot an und musste lachen, bevor sie sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte.
Ihr löschtet die Stehlampe und lieÃt nur die Lichterkette an, machtet es euch auf dem Sofa unter der Kuscheldecke gemütlich, die sie irgendwo aufgetrieben hatte. Der Baum sah beeindruckend aus. Eure Anstrengungen hatten sich also gelohnt, auÃerdem lud die festliche Stimmung, die er verbreitete, förmlich dazu ein, Erinnerungen an jene Weihnachtsfeste wachzurufen, die ihr getrennt voneinander verlebt hattet.
Du dachtest an all die Dinge, die ihr noch gemeinsam ma chen würdet: an ganz alltägliche Sachen ebenso wie an die selteneren, einschneidenden Schritte: Ihr würdet euch ein gemeinsames Leben voller Liebe aufbauen, ein gemütliches Zuhause schaffen, das mit der Zeit immer vollkommener würde. Unter der Decke träumtest du davon, mit ihr, ja für sie zu leben, denn einen anderen Lebensinhalt hattest du nicht: Sie war das Fundament, auf dem deine ganze Welt ruhte.
64
Es fehlte nur noch eine Viertelstunde bis Mitternacht. Während du darauf wartetest, machtest du dir Sorgen um Selvaggias Geschenk, das grausamerweise immer noch in der kleinen, mit Luftlöchern versehenen Schachtel steckte: Das arme Kätzchen! Und deine Schwester, die am Tisch saà und von sich, von ihrem früheren Leben in Ligurien, erzählte, gab euren Eltern, aber vor allem deinem Vater zuliebe, eine Anekdote nach der anderen zum Besten. Auch wenn sie im Grunde alle nur für dich bestimmt waren.
Irgendwann verkündete eure Mutter triumphierend, dass es eine Minute vor Mitternacht war.
Völlig unbeeindruckt sagtest du ironisch, es werde schlieÃlich nicht Silvester gefeiert, doch das tat ihrer redseligen, fröhlichen Stimmung keinen Abbruch.
Papa sah sie nur belustigt an und bedeutete dir, ihr nicht zu widersprechen: Da sie deine Mutter war, solltest du ihre kindliche Begeisterung eigentlich kennen.
»Jetzt, jetzt ist es so weit«, schrie sie und sprang abrupt auf. »Jetzt geht es ans Geschenkeauspacken!«
Selvaggia verdrehte die Augen, und ihr gingt zum Baum, unter dem die Geschenke bereits warteten. Du strahltest sie an und stauntest vor Glück, weil sie von sich aus deine Hand nahm.
Diese inzwischen so vertraute Berührung fühlte sich an wie kleiner, täglicher Segen, der dir versicherte, dass Selvaggia immer für dich da war. Und eben weil sie für dich da war, hattest du alles, was du brauchtest, und würdest es auch weiterhin haben.
Selvaggia überreichte euren Eltern die Geschenke.
Sie nahmen sie erfreut entgegen. Mama bekam einen neuen Bademantel von Trussardi und eine sündhaft teure Körperpflegeserie, die auch jenseits der fünfzig einen knackigen Po und straffe Brüste versprach. Nicht dass eure Mutter, die sich für ihre zweiundvierzig übrigens hervorragend gehalten hatte, das nötig gehabt hätte. Doch solche Dinge begeisterten sie und hielten sie dermaÃen bei Laune, dass es eine Freude war, ihr beim Auspacken zuzusehen. Dein Vater hingegen bekam einen dicken Hochglanzband mit Fotos von Mario Dondero: lauter berühmte Schnappschüsse von Beckett, Topor, Sartre und Pasolini. Doch bei allem Respekt vor der Fotografie â
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