Die Alchemie der Naehe
eine Kunst, die unbedingt gepflegt werden sollte â hattest du nie den Eindruck gehabt, dass dein Vater besonders begabt darin wäre. Er selbst glaubte natürlich das genaue Gegenteil.
Fest stand nur, dass eure Geschenke bei den Eltern gut ankamen: »Danke, Kinder«, sagte euer Vater. »Da habt ihr euch ja dieses Jahr mächtig angestrengt, und das ist auch gut so: Jetzt wo unsere Familie endlich wieder vereint ist.«
»Aber wir haben uns auch ganz schön Mühe gegeben«, mischte sich eure Mutter ein.
Dann wurdet ihr rätselhafterweise raus in die Kälte und bis zur Garage geführt. Während ihr den Weg vom Haus bis zum Garagentor zurücklegtet, fielen dir eure riesigen Schatten an der Hauswand auf. Es waren zwei Paar Schatten, die sich davon abhoben, und fast sah es so aus, als hätte das zweite Paar, sprich Selvaggia und du, deutlich klarere Konturen. Aber das war nur so ein Eindruck, aus dem du nicht so recht schlau wurdest â vorausgesetzt es lohnte sich überhaupt, weiter darüber nachzugrübeln. Lieber lenktest du dich mit dem Gedanken ab, welches Geschenk ihr zwei Wahnsinnigen überhaupt verdient hattet â von einem miteinander wetteifernden Elternpaar, dem es erst nach so vielen Jahren gelungen war, sich zu versöhnen. Wahrscheinlich Folgendes: 1) Eine Wagenladung Kohle, die direkt aus der Hölle in der Garage gelandet war; 2) ein beeindruckender Meterstab, der die Distanz angab, die ihr eurer Mutter zufolge zueinander einhalten solltet. Doch als sich das Schwingtor öffnete, konntet ihr in dem allgegenwärtigen Dämmerlicht erst kaum was erkennen: Die rote Schleife war jedenfalls riesig, und direkt unter dem Geflecht der riesigen Bänder, das sie überdeckte, konntest du das leuchtende Rot einer Autokarosserie erahnen. Ohne jede Vorwarnung machte eure Mutter das Licht an, und ihr saht euch eurem neuen Alfa Mito gegenüber.
Selvaggia schien es die Sprache verschlagen zu haben, und du sagtest nur »Geil«, gefolgt von »Wow«.
Und euer Vater: »Da ihr ständig unterwegs seid, dachten wir, dass das hier sicherer ist als Giovannis alte Rostlaube. Deshalb haben Mama und ich zusammengelegt und mit dem stolzen Sümmchen â¦Â«
»Und?«, fragte eure Mutter, die eure Reaktion kaum erwarten konnte.
»Mit so etwas hätten wir nie gerechnet«, sagtest du. »Ihr hättet wirklich nicht so viel Geld ausgeben sollen, aber trotzdem Danke! Die alte Rostlaube hätte es auch noch getan.«
»Von wegen«, mischte sich Selvaggia, die Pragmatikerin, ein. Langsam gingt ihr auf den Mito zu und untersuchtet ihn jenseits des Geschenkbands Millimeter für Millimeter.
»Das Band dürft ihr abmachen«, sagte euer Vater lachend. »Dann gehen auch die Türen auf.« Der Spitzennotar zückte die Autoschlüssel und lieà sie in deine geöffnete Rechte fallen. Als ihr beide kurz darauf die sportliche Innenausstattung bestauntet, sahst du, wie Selvaggia und deine Mutter sich leise unterhielten, vermutlich beieinander entschuldigten. Dein eigentliches Glück und deine wahren Gefühle würdest du nur Selvaggia anvertrauen, sobald ihr endlich allein wart und euch eure Geschenke überreichen konntet.
Um eins â eure Eltern waren im Obergeschoss, und eine ganz neue Stille hatte sich im Haus breitgemacht â holtest du schleunigst das arme Kätzchen, das nach wie vor in der mit Luftlöchern versehenen Schachtel steckte. Gerade noch rechtzeitig konntest du es unter dem Sofa verstecken, denn Selvaggia kam kurz darauf herein und sagte: »Ich hab da was für dich. Frohe Weihnachten.« Mit diesen Worten überreichte sie dir ein ziemlich groÃes Geschenk, wofür du dich nicht mal bedanken konntest, weil das arme Kätzchen in der mit Luftlöchern versehenen Schachtel wenn auch nur leise protestierte, und Selvaggia sich sofort verwirrt umsah. Da packtest du ihr Geschenk aus und nahmst ein dunkles Paar Timberland-Stiefel aus dem Karton, die deine FüÃe den restlichen Winter über wärmen würden. Doch noch bevor du sie anprobiertest, sagtest du: »Die sind fantastisch!«, und holtest rasch dein eigenes Geschenk aus dem Versteck: »Das hier ist für dich. Ich fürchte, es hat ein wenig gelitten und wird müde sein.«
Jetzt war das Maunzen des verschreckten Kätzchens ganz deutlich zu hören. »O Gott, Schatz â¦Â«, flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher