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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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Warst noch angezogen und hattest kaum geschlafen. Seltsamerweise galt dein erster Gedanke nicht dem mehr oder weniger dringenden Bedürfnis zu duschen und auch nicht dem Umstand, dass du wahnsinnig schlecht geschlafen hattest. Sondern der Frage, ob sie noch da war, nachdem du sie in der Nacht zuvor höchstpersönlich ins Gästezimmer getragen und zu Bett gebracht hattest. Ein Gedanke, der dich jetzt mit einem zwiespältigen, diffusen Gefühl erfüllte, ja zu einer Art Wahrnehmungsverwirrung führte, die wiederum widersprüchliche, noch im Larvenstadium befindliche Empfindungen auslöste: eine Mischung aus Beunruhigung und vager Euphorie, aus Angst und erstaunlicher Gelassenheit. Außerdem hattest du leichte Kopfschmerzen, logisch, aber nichts im Vergleich zu dem, was Selvaggia erwarten würde, wenn sie aufwachte.
    Du verließt schwankend dein Zimmer, liefst durch die leere Wohnung. Du öffnetest die Tür zum Schlafzimmer deines Vaters und sahst, dass er nicht da war, sein Bett war unberührt. Eure Eltern hatten also tatsächlich bei eurer Mutter oder in einem Hotel übernachtet, genau wie Selvaggia es vorhergesagt hatte. Und das ließ auf eine beginnende Versöhnung schließen.
    Du machtest es dir auf dem Sofa bequem und zapptest verschlafen durch die Kanäle ohne das geringste Bedürfnis, nach Selvaggia zu sehen. Da hörtest du in der Ferne eine Tür, gefolgt von Schritten, bis Selvaggia in einem Sommerkleid im Esszimmer auftauchte. Ihre Haare waren zu einem hoch sitzenden Pferdschwanz gebunden, und sie war ungeschminkt: Kaum hatte sie dich auf dem Sofa entdeckt, zuckte sie zusammen. Du grinstest amüsiert, und sie setzte sich neben dich, gähnte und versuchte zweimal, ihren Pony in Ordnung zu bringen.
    Â»Hast du hier geschlafen?«, fragte sie.
    Â»Nein«, sagtest du lachend. »Irgendwann habe ich dann doch noch ins Bett gefunden.«
    Auch sie lachte leise. »Das mit gestern tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Das war die totale Katastrophe.« Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, als wollte sie den letzten Rest Schlaf vertreiben.
    Â»Nein«, sagtest du. »Es war schön«. Ehrlich gesagt hattest du nicht die leiseste Ahnung, aus welchem Winkel deines Gehirns dieseAussage kam. In Wahrheit meintest du »schrecklich«, nicht »schön«, schließlich hattest du ihretwegen einen grauenvollen Abend verbracht und dich von der Szenerie geradezu abgestoßen gefühlt. Doch nachdem dir das Wörtchen »schön« nun mal rausgerutscht war, konntest du ihr schlecht böse sein. Nicht dass du das vorgehabt hättest.
    Â»Dann also Danke noch mal«, sagte Selvaggia und versetzte dir einen gespielten Stoß gegen die Schulter. Anschließend kehrte sie ins Gästezimmer zurück, wo sie vermutlich blieb, bis eure Mutter sie abholte. Denn als es so weit war, lagst du gerade in deinem Bett und schliefst, nicht ohne dich vorher gründlich gewaschen zu haben.
    Beim Aufwachen entdecktest du etwas, womit du nie gerechnet hättest: Auf dem Nachttisch lag ein Zettel, der von einem dünnen Stift beschwert wurde. Leicht benommen griffst du danach und überflogst ihn. Die Botschaft war schlicht und etwas infantil:
    Ciao Johnny,
    ich habe mich wohlgefühlt mit dir. Danke, dass du dich um mich gekümmert hast, obwohl ich dir den Abend zur Hölle gemacht habe. Erhol dich gut, bis wir uns wiedersehen, und glaub mir: Ich bin nicht immer so extrem wie gestern Abend. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.
    Kuss,
    S.
    Diesen Brief bewahrtest du auf. Da er von Herzen kam, schaffte er es irgendwie, eine verborgene Saite in dir zum Klingen zu bringen. Während du aufrichtig von dem Wunsch beseelt warst – von dem Wunsch beseelt?  –, dass Selvaggia vielleicht doch nicht so »extrem« war, wie es aussah, überfielen dich gleich mehrere, in konzentrischen Kreisen angeordnete Gefühle. Deine leise Wut über den verdorbenen Abend, darüber, dass du jeder ihrer Launen nachgegeben hattest und behandelt worden warst wie der letzte Dreck, war längst verflogen. Zurückblieb nur der Eindruck, dass es wirklich schön gewesen war mit ihr, auch wenn du dir grinsend eingestehen musstest, dass du diese Erfahrung nicht so bald wiederholen wolltest. Dieses schreckliche Technogestampfe! Trotzdem, es war schön gewesen, etwas mit ihr zu unternehmen.
    Selvaggia hatte dich ganz

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