Die Alchemie der Naehe
Neid!) schüren würde. Du sahst dich als eine Art Schönheitsmäzen â ein bizarrer, aber durchaus befriedigender Gedanke.
»Warum wolltest du es mir unbedingt schenken?«, fragte sie im Restaurant und wies mit dem Kinn auf die Tüte mit dem neuen Kleid. »Was hast du vor?«
»Nichts. Ich hatte einfach Lust darauf.«
»Das nehm ich dir nicht ab.«
»Na gut, zugegeben: Ich habe es dir aus Mitleid gekauft.«
Sie lachte über deinen Witz. Ihr liebtet es, euch zu necken.
»Genau, und ich bin nur aus Mitleid mit dir zusammen«, erwiderte sie. »Aber während du mir den wahren Grund für dieses kostbare Geschenk verheimlichst, habe ich nie verschwiegen, warum ich so nett bin, bei dir zu bleiben.«
»Warum denn?«
»Weil ich nun mal krankhaft selbstlos bin!«
Selvaggia und selbstlos â eine gröÃere Liebeslüge gab es gar nicht! Allein schon, dass sie so etwas behauptete, lieà dich laut auflachen.
»Verstehe. Aber warum bin ich so auf dein Mitleid angewiesen?«
»Na ja, sagen wir mal so: Auf diese Weise mache ich dir armem Schwein das Leben etwas erträglicher.« Bei diesen Worten berührte ihr Knöchel den deinen.
»Na groÃartig. Aber ist dir eigentlich schon mal der Gedanke gekommen, dass du mich damit erst zu einem armen Schwein machst?« Kurz gesagt: Mit weiteren schlagfertigen Bemerkungen und gespielten Vorwürfen hast du dich über die Frage hinweggemogelt, warum du ihr das verdammte Kleid wirklich gekauft hattest. Deine Schwester blieb hartnäckig, denn sie ahnte bereits, dass mehr dahintersteckte. Aber hier im Urlaub wolltest du ihr noch nichts verraten: Erst wenn ihr wieder zu Hause wärt und sie dich völlig entnervt fragen würde, wie ihr verdammt noch mal euer erstes gemeinsames Silvester feiern wolltet, sollte sie von dem Ball erfahren.
Am Nachmittag lieht ihr euch den väterlichen Wagen und fuhrt zum Skifahren nach Misurina. Im perfekten Skidress nahmt ihr grundlos kichernd den Sessellift zur Piste. Oben auf dem Gebirgskamm schnalltest du Selvaggias Helm enger und kontrolliertest sorgfältig die Bindungen ihrer Rossignol: Wenn sie stürzte, würdest du dir das niemals verzeihen.
Nachdem sie sich deine Ermahnungen geduldig angehört hatte â schlieÃlich war ihr Knöchel erst seit Kurzem wieder verheilt, sodass sie kein unnötiges Risiko eingehen sollte â, gab sie dir mit einem Nicken zu verstehen, dass sie so weit war. Ihr begannt mit der Abfahrt, und zu deiner groÃen Ãberraschung konnte Selvaggia, die doch eher das Meer liebte, ziemlich gut Ski fahren.
Am Spätnachmittag lieht ihr euch einen Schlitten, was euch erst recht in Hochstimmung versetzte. Sie saà vorne, sodass du sie umarmen und ihre Anspannung spüren konntest, als ihr Adrenalinspiegel mit der Geschwindigkeit stieg. Und weiÃt du noch? Du hast hemmungslos gelacht, als sie kurz aufkreischte â vor lauter Angst, vom Schlitten zu fallen und slapstickmäÃig zu Tal zu kugeln. Gut möglich, dass das der schönste Tag deines Lebens war, denn bei all dem Herumalbern und Scherzen fühlte es sich an, als wärt ihr wieder Kinder, als könntest du sie erleben, wie wenn ihr zusammen aufgewachsen wärt: einfach nur als Schwester.
An diesem Abend gönntet ihr euch nach dem Essen ein HeiÃgetränk an der Hotelbar und schwärmtet von dem gelungenen Ferienbeginn: ein Wortgemälde, auf dem die einladende Atmo sphäre des Ortes, ja seine positiven Schwingungen zu erkennen waren und im Vordergrund Selvaggia und du. Du hattest rote Wangen, warst an einem Tag voller Zerstreuungen ent spannt, und sie umarmte dich. Ihre lieblichen Züge passten hervorragend zu deinen.
Während du dir insgeheim mit geschlossenen Augen dieses Doppelporträt des Glücks ausmaltest, um es dir für immer einzuprägen, warst du ganz bei dir, ganz versunken in deine Lie besleidenschaft. Bis dich ihr helles Lachen erreichte, und du die Augen aufschlugst, sahst, wie sie dich anstrahlte. Du freutest dich über ihre Zuneigung und lächeltest zurück, wie um sie zu einer Zärtlichkeit, zu einem Kuss aufzufordern. Du wusstest, dass dieser Blick, gepaart mit einem angedeuteten Grinsen, die Mädchen verrückt machte, und wolltest nur sehen, ob sie wenigstens in diesem Punkt wie alle anderen war. Noch immer sah sie dich fasziniert an. In diesem Moment war sie dir wirklich
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