Die Alchemie der Naehe
frühmorgens den Rückweg antreten.
Kaum standst du in diesem sinnlos bequemen, aber dafür umso einsameren, ja fast toten Zimmer, fragtest du dich traurig, was du hier bitte schön ohne sie solltest? Mit wem solltest du atmen, spielen und lachen, wenn du dich langweiltest? Selvaggia wohnte direkt nebenan und doch Lichtjahre entfernt.
Du hattest vielleicht höchstens eine Minute reglos auf dem Bett gelegen, als du dir vor lauter Kummer nicht anders zu helfen wusstest, als aufzustehen, zu der Wand zu gehen, die eure Zimmer voneinander trennte, und daran zu lauschen.
Irgendwann glaubtest du ihre Schritte zu hören, eine Art gedämpftes Trippeln â deine Vermutung war, dass sie gerade hastig ihren Koffer auspackte. In Wahrheit hörtest du gar nichts und wolltest diese lächerliche Geheimagenten-Lakai-Haltung gerade aufgeben, als du merktest, wie sich ihre Schritte der Wand näherten. Gut möglich, dass ihr genau voreinander stan det. Sofort fragtest du dich, woher Selvaggia bloà wusste, dass du hier schon die ganze Zeit ausharrtest und dich nur auf sie konzentriertest, ohne sie sehen zu können. Bei dem Gedanken, dass es dafür nur eine Erklärung gab, wäre dir beinahe das Herz stehen geblieben: Aufgrund einer durch eine geheime Alchemie hervorgerufenen Symbiose spürtet ihr euch wie kein anderes Geschwisterpaar. Dann hörest du eindeutig, dass sie an genau diese Wand klopfte.
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Während eures Aufenthalts in den Bergen solltet ihr eine ganze Reihe von Angewohnheiten annehmen, die euch lieb und teuer wurden: Morgens wachtet ihr kurz vor neun auf und begannt den Tag mit einem Frühstück auf dem Zimmer. Dann gabt ihr euch so angenehmen Beschäftigungen hin wie Shoppen, Skilaufen (eher selten), Sightseeing (einmal) und Eislaufen. Mittags aÃt ihr in Ruhe eine Kleinigkeit in irgendeinem netten Lokal, um dann abends ins Hotel zurückzukehren, wo sich die ganze Familie um einen Tisch versam melte und jeder kurz erzählte, was er tagsüber so erlebt, wel chen Spontankauf er getätigt hatte â eure Mutter hatte sich eine kleine weiÃe Fendi-Tasche gegönnt, die sie sich schon seit Langem wünschte.
AnschlieÃend trennten sich eure Wege wieder: Jeder verbrachte den Abend so, wie er wollte, wobei es eure Eltern waren, die bis in die Puppen tanzen gingen.
Ansonsten schliefst du bei Selvaggia im Zimmer. Natürlich liebtet ihr euch jeden Abend, und so langweilige Themen wie Schule, Freunde, Arbeit, Geld und das Elend der Welt waren strikt verboten.
Schon am ersten Ferienmorgen, an dem du mit Selvaggia im Arm aufwachtest, ohne dass ihr von eurer Mutter oder sonst wem gestört worden wärt, stand dir die Situation glasklar vor Augen: Es war, als hätten euch eure Alten stillschweigend zu verstehen gegeben: »Dieser Urlaub ist unsere zweite Hochzeitsreise, und deshalb lassen wir euch in Frieden â vorausgesetzt, ihr lasst uns ebenfalls in Frieden.« Im Grunde wart ihr nur zufällig dabei, niemand legte wirklich Wert auf eure Anwesenheit. Sie hatten euch bloà mitgenommen, weil ihr sonst beleidigt gewesen wärt.
Auch Selvaggia erlebte diese ungewohnte Freiheit zum ersten Mal, und weil sie wusste, dass es keine familiären Verpflichtungen gab, war sie noch aufgedrehter als sonst.
In die besten Läden im Zentrum gehen. An Dingen hängen bleiben, die einen faszinieren. Abwechselnd Geschäfte mit Unterhaltungselektronik, Prêt-à -porter-Mode, Schmuck, Schu hen und Dessous aufsuchen, überall etwas sehen, das einem gefällt.
Natürlich konntet ihr nicht jedem Kaufimpuls nachgeben, aber an manchem kamt ihr einfach nicht vorbei. Bei dir war das eine neue Jeans, die sie bezahlte â keine Ahnung, was da in sie gefahren war! Und bei ihr ein hinreiÃendes Kleid, das allerdings viermal so teuer war wie deine Jeans und das du ihr unbedingt schenken wolltest: Es war schwarz, lief in einem Ballonrock aus und war mit Swarovski-Steinen besetzt. Es wäre unverzeihlich gewesen, es auf dem Bügel hängen zu lassen, denn dafür stand es ihr einfach viel zu gut. Und auch wenn sie noch nichts davon ahnte â sie würde es zum Silvesterball tragen. Meine Güte, allein bei der Vorstellung, dass sie sich ihren Freundinnen in so etwas Schönem zeigen würde, platztest du vor Stolz! Erst recht, wenn sie irgendwann erfahren würden, dass du es ihr geschenkt hattest, was noch viel mehr Bewunderung (und
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