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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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Stattdessen verkörpertet ihr eine andere Form von Liebe, eine erhabene Liebe, die den Horizont der anderen bei Weitem übertraf. Und das machte euch aus deiner Sicht zu etwas Besserem. Deshalb war es dir egal, dass du jetzt dastandst wie ein Perverser, Gestörter oder Wahnsinniger. Denn nur die Natur, die euch hervorgebracht hatte, durfte euch den Prozess machen.
    Es war dir egal, was man über euch und eure sexuellen Neigungen sagen und denken würde. Dass dein guter Ruf zerstört war, ja dass man dich beleidigen und anspucken würde, ließ dich kalt. Du warst bereit, die Konsequenzen zu tragen – Hauptsache, sie wurde nicht angegriffen. Hauptsache, Selvaggia wurde nicht beleidigt und der öffentlichen Verachtung preisgegeben: Denn das würdest du niemals dulden. Alles, nur nicht das! Aber wenn es sein musste, würdest du sie mit deinem Leben verteidigen.
    Nun gab es kein Zurück mehr. Deshalb tanztet ihr trotz der beunruhigenden Zukunftsaussichten unbeeindruckt weiter, so als hätte das, was um euch herum geschah, keinerlei Bedeutung.
    Denn trotz all dem Schmerz, ja vielleicht sogar seinetwegen wusstet ihr, dass ihr von den vielen Augenpaaren, die euch beim Tanzen zusahen, von den hundertdreißig Paaren, die die Tanzfläche bevölkerten, die glücklichsten und lebendigsten wart.

74
    Sofort merktest du, dass nichts mehr so war wie zuvor, schon gleich nach den Weihnachtsferien, als du bei deinen Klassenkameraden plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit standst. Alle wussten Bescheid, und alle sahen dich so vorwurfsvoll an, als hättest du jemanden umgebracht. Armer Giovanni! Schon als du die ersten Blicke auf dir spürtest, wusstest du, dass du deine Freunde verloren hattest, die dir früher so wichtig gewesen waren. Aber das durfte dir nichts ausmachen, redetest du dir ein, da du sie ohnehin überbewertet hattest.
    In der Pause merktest du, dass dich viele Schüler, auch solche aus anderen Klassen, angewidert anstarrten, manche sogar mit einer Art ehrfürchtiger Scheu, als wärst du der letzte Kannibalenhäuptling oder einer von denen aus der Antike, die Theben in Aufruhr versetzt hatten und dafür gesteinigt worden waren. Eines der armen Schweine, die angeblich die Pest nach Mailand gebracht hatten und daraufhin zu Tode gefoltert worden waren.
    Wenn du vorbeigingst, verstummten die Mädchen scharenweise, sahen zu Boden oder wandten den Blick ab. Oder aber sie versuchten abrupt das Thema zu wechseln. Wenn sie dich schon zum verdorbensten Subjekt aller Zeiten ausriefen, sollten sie dich wenigstens nicht für dumm verkaufen! Schließlich wusstest du genau, über wen sie gerade redeten.
    Die Jungs hingegen, die schon Bescheid wussten, wichen vor dir zurück wie vor einem furchteinflößenden Leprakranken. Und diejenigen, die nicht Bescheid wussten, würden es bald tun.
    Die Nachricht von eurer Beziehung hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer, wobei du nicht ausschließen konntest, dass die Wahrheit noch mit irgendwelchen grausigen, frei erfundenen Details ausgeschmückt worden war.
    In dieser zehnminütigen Vormittagspause warst du genau zwei Versuchungen ausgesetzt: der, die übliche Nervositätszigarette zu rauchen, und der, Selvaggia anzurufen. Der ersten gabst du nach, der zweiten nicht, schließlich wolltest du sie nicht be unruhigen. Bestimmt hatte sie selbst Schwierigkeiten genug.
    Deshalb rauchtest du abseits von den anderen deine Camel light, und während du einen letzten Blick auf die Klassenka meraden warfst, mit denen du dich normalerweise unterhieltst, dachtest du keine Sekunde darüber nach, dich zu ihnen zu gesellen. Schließlich wusstest du genau, dass du für diese hochanständigen Schüler der Sündenbock warst.
    Schon daran, wie sie sich umdrehten und dich anstarrten, merktest du überdeutlich, dass du nicht willkommen warst, und jetzt stand auch fest, dass du um nichts in der Welt wieder auf sie zugehen würdest.
    Schon bald beschlosst du zu gehen: Du konntest sie einfach nicht länger ertragen, diese Blicke, die dich mehr ärgerten als verletzten. Wütend warfst du die Zigarette weg, und in der winzigen grauen Rauchsäule, die vom feuchten Gras aufstieg, erkanntest du das Fiasko dieses katastrophalen Tages: Die Camel brannte wie ein winziges Holzscheit, und tausendmal lieber hättest du sie mit der Hand ausgedrückt, als dich dieser erbärmlichen Situation auszusetzen und dich

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