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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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telefonieren. »Mit unserer Mutter vielleicht«, beruhigtest du dich, bis du hörtest, wie sie sagte: »Also gut, dann bis gleich.«
    Als sie aus der Toilette kam und dich wach vorfand, mustertet ihr euch eine Weile. Fühlte sie sich überrumpelt? Hatte sie nicht damit gerechnet, dass du schon wach warst? Vielleicht schämte sie sich für etwas und tat sich deshalb schwer, deinen Blick zu erwidern?
    Von bösen Vorahnungen erfüllt, ergriffst du als Erster das Wort.
    Â»Guten Morgen«, begrüßtest du sie aufrichtig. Auch sie wünschte dir Guten Morgen, bevor sie nach etwas zum Anziehen Ausschau hielt. An ihren Bewegungen sahst du, dass sie sich beobachtet fühlte: Sie waren nicht so geschmeidig wie sonst, sondern fahrig und abgehackt, gingen mit kaum wahrnehmbaren nervösen Gesten einher, die jedoch genügten, um ihre Verlegenheit zu zeigen.
    Â»Wie geht’s den Erzeugern?«, fragtest du und versuchtest raffinierter, als du sonst warst, deinem Verfolgungswahn so etwas wie detektivischen Spürsinn entgegenzusetzen.
    Sie warf dir einen misstrauischen Blick zu.
    Â»Ich habe nicht mit Mama und Papa telefoniert. Das war Agnese. Wir treffen uns gleich im Zentrum: Ihr ist in letzter Minute eingefallen, dass sie noch kein passendes Outfit für heute Abend hat. Und da hat sie mich gebeten, sie zum Shoppen zu begleiten.«
    Â»Verstehe.«
    Â»Ich bin noch vor dem Mittagessen zurück, versprochen! Dann haben wir Zeit für uns und können was Leckeres kochen, einverstanden?«
    Â»Einverstanden. Du wirst mir fehlen.«
    Â»Ach, stell dich nicht so an! Ich werde mich wie gesagt beeilen!« Eine knappe Minute später war sie bereits verschwunden. Sie verabschiedete sich hastig, indem sie dir einen Kuss zuwarf – fast wie aus einer anderen Zeit. Doch auch du bliebst nicht feige auf dem Bett sitzen, sondern zogst dich todesmutig an. Ohne dich zu waschen, zu kämmen oder dich mit anderen Dingen aufzuhalten, ranntest du auf die Straße, sahst abwechselnd in alle Richtungen und warst fest entschlossen, Selvaggia zu folgen.
    Wenn sie sich mit Agnese traf, konntest du ihr anbieten, sie zu begleiten, dich an ihren Gesprächen zu beteiligen und gegenüber der alten Freundin deiner Zwillingsschwester nicht ganz so eigenbrötlerisch zu sein. In diesem Moment fragtest du dich keine Sekunde lang, ob das, was du vorhattest, richtig oder falsch war, hast nicht einmal einen Gedanken an die Frage verschwendet, ob das nicht der schnellste Weg war, Selvaggias Vertrauen für immer zu verlieren.
    Vertrauen war das Fundament jeder Liebesbeziehung, erst recht wenn sie so kompliziert war wie eure. Aber du musstest natürlich mal wieder alles kaputt machen. Warum eigentlich? Wegen irgendeiner vagen Vorahnung? Wegen eines eingebildeten, krankhaften Wahns?
    Wegen borderlinemäßigen Misstrauens.
    Es ist abscheulich, dem Menschen, den man liebt, zu misstrauen – der erste Schritt in den Wahnsinn. Doch das war dir gar nicht bewusst. Oder vielleicht doch, und du nahmst dir einfach das Recht heraus, es zu ignorieren.
    Ja genau, du trautest ihr nicht, hattest ihr von Anfang an nicht getraut.
Du beschleunigtest deine Schritte und sahst, dass sie an einer Fußgängerampel wartete und anschließend in eine Straße mit lauter Geschäften und Banken einbog. Daraufhin hast du dich an ihre Fersen geheftet und sie nicht mehr aus den Augen gelassen, während sie mit festen Schritten dir fremde Straßen überquerte oder schmale Gassen nahm, die plötzlich breiter und zu Plätzen wurden.
    Du hast sie im Schutz der Laubengänge eines alten Gebäudes beobachtet, ganz in der Nähe dieses alten, schlichten Cafés: Selvaggia war in knapp dreißig Metern Entfernung stehen geblieben, als dir auf einmal dämmerte, dass sie ganz bestimmt nicht auf Agnese wartete: Zum einen weil eine, die so reich war wie sie, bestimmt dreitausend passende Outfits besaß. Zum anderen weil Selvaggia vorhin wie ertappt reagiert hatte.
    Und dann ist da auf einmal dieser blonde, extrem schmächtige Typ, der achtlos an dir vorübergeht, sich kurz in dein Blickfeld schiebt, zwischen dich und Selvaggia tritt. Er trägt eine Intellektuellenweste, Hemd und Mokassins und hat diese aufgesetzte Pseudoeleganz, die genau den Stil und den Intellekt suggerieren soll, die ihm vermutlich abgehen. Bestimmt ist er ein reiches Genueser Muttersöhnchen: einer von denen, die

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