Die Alchemie der Naehe
Liftlämpchen und wartetet ungeduldig auf Rettung in Form der alten Fahrstuhlkabine, bis euch Schlüssel- beziehungsweise Scharniergeräusche zusammenzucken lieÃen. Siehst du, sagtest du dir. Jetzt wird uns unsere Mutter erwischen, und alles ist vorbei. Auch Selvaggia hatte sich sichtlich erschreckt. Ihr war der kalte Schweià ausgebrochen genau wie dir. Gemeinsam hieltet ihr den Atem an, aber nicht die Tür eurer Wohnung ging auf, sondern die des Büros von nebenan. Ein ungefähr fünfzigjähriger Mann in Latzhose kam heraus, vermutlich ein Anstreicher oder Elektriker, dem sich jetzt der seltsame Anblick von zwei jungen Leuten in Unterwäsche bot, die auf den Lift warteten: er mit riesigen Knutschflecken am Hals und einem schwer verkratztem Rücken, sie mit völlig zerzaustem Haar und knapper, durchsichtiger Spitzenunterwäsche.
»Guten Tag«, sagtest du, während euch der Typ wie hypnotisiert anstarrte. Besser gesagt Selvaggia, was dir deutlich missfiel. Doch der Typ sagte bloÃ: »Tag, Leute«, und nahm die Treppe. Eine Minute später kam der Lift, und ihr stürmtet hinein â keine zwei Wimpernschläge bevor eure Mutter und das Paar aus der Wohnung kamen, denn ihr hörtet, wie sie jammerte, dass sie laufen musste. In der kurzen Zeit, die ihr zur Verfügung hattet und in der euch eure Verfolger im Nacken saÃen, während ihr riskiertet, eure Sachen falsch herum anzuziehen und zu vertauschen â dir passten ihre Klamotten nicht, und in euer Hektik wanderten sie hin und her, bis ihr kapiertet, was wem gehörte, begleitet von Ausrufen wie »Aber das ist meine Hose, bist du blind?« und »Pass auf, du machst sie mir noch kaputt!« â, gelang es euch, einigermaÃen angezogen das Erdgeschoss zu erreichen. Kaum hatten sich die Aufzugtüren geöffnet, standet ihr auch schon drauÃen auf der StraÃe und suchtet verzweifelt nach einem Versteck, um kurz zu verschnaufen.
SchlieÃlich floht ihr in eine dunkle Gasse und lehntet euch völlig auÃer Atem an eine Hauswand, während du zum Himmel emporsahst und sie sich vorbeugte, die Hände auf die Oberschenkel stützte und zu Boden starrte.
Ihr schönes Haar sah unfreiwillig komisch aus, ihre Kette hing falsch herum, und ihre Kleider waren zerknittert. Noch immer keuchte sie und war ganz aufgelöst, völlig aufgedreht vom vielen Adrenalin. Gleichzeitig war sie schön wie eh und je, ja sogar noch schöner als gewöhnlich, denn im Grunde war es egal, ob sie in Lumpen oder ein Abendkleid gehüllt war. Sie hätte sich auch ein paare Bindfäden statt schönen Schmucks um den Hals hängen können, und du hättest sie trotzdem geliebt. Als sie merkte, dass du sie beobachtest, gab sie sich einen Ruck und suchte mit der Linken nach ihrer Kette. AnschlieÃend fuhr sie sich durch die Haare, fasste sie erneut zum Zopf zusammen und strich ihren Pony glatt. Du lächeltest ihr zu, zum Zeichen, dass alles in Ordnung war, woraufhin sie vor dich hintrat und deine Frisur in Ordnung brachte. Als Nächstes zog sie ein Taschentuch aus ihrem Rucksack und wischte dir den Schweià von Gesicht und Hals.
Sie suchte deinen Blick, und ihr saht euch lange an. In stummer Zwiesprache spürtet ihr eure jeweilige Angst und wusstet, dass es von nun an immer schwieriger werden würde, zusammen zu sein.
»Wie schade, du hast einen Ohrring verloren«, sagtest du und berührtest ihr schmuckloses Ohrläppchen.
Sie trat etwas zurück. »Das macht nichts«, sagte sie. »Der war sowieso uralt. Aber wir haben wirklich ein Riesenschwein gehabt.«
»Das kann man wohl sagen! Und dann dieser Typ in der Latzhose, dieser Elektriker oder so. Der war wirklich cool. âºTag, Leute!â¹ Das werde ich niemals vergessen.«
Ihr dachtet an eure abenteuerliche Flucht zurück, daran wie viele sich wohl totlachen würden, wenn der Typ von zwei Schülern erzählte, die halb nackt auf den Aufzug gewartet hatten. Dann hörtest du, wie ihr Magen knurrte. »Es ist zwei, und du hast Hunger, tesoro . Wollen wir eine Kleinigkeit essen gehen?«
52
Es war Anfang Oktober, als Selvaggia an den Regionalwettkämpfen in rhythmischer Sportgymnastik teilnahm. An ihrer Schule hatte man ihr Talent sofort bemerkt, sodass man sich die Chance nicht entgehen lieÃ, sie zum Wettkampf anzumelden. Die Ãrmste hatte länger als einen Monat zu At My Most Beautiful von
Weitere Kostenlose Bücher