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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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R.E.M trainiert – ein ziemlich leidenschaftliches, aber auch komplexes Lied. Aber da sie es selbst ausgesucht hatte – und du ohnehin vollstes Vertrauen zu ihr hattest –, gingst du davon aus, dass sie nach dreizehn Jahren rhythmischer Sportgymnastik erfahren genug war, um zu wissen, ob es der richtige Song für sie war oder nicht.
    Die ganze Woche vor dem Wettkampf hatte sie nichts anderes getan, als sich zu Hause vorzubereiten und zu reden, reden, reden: über die Choreografie, ihre jetzigen Gefühle und die, die sie später ausdrücken wollte. Und du würdest ihr größter Fan sein, liebestrunkener denn je, und zwar in der ersten Reihe. Um dir nicht die Vorfreude zu nehmen, wandtest du sofort den Blick ab, sobald sie auch nur einen Tanzschritt andeutete. Denn wenn du Selvaggia das erste Mal tanzen sahst, sollte es etwas ganz Besonderes sein.
    Die Gala fand in dem großen Sportpalast statt, um sechzehn Uhr nach Greenwicher Zeit. Aber schon um halb zwei wart ihr alle völlig aus dem Häuschen. Gleich nach dem Mittagessen fuhrst du Selvaggia zu einem angesagten Schönheitssalon, wo sie sich die Haare hochstecken ließ, damit sie beim Tanzen nicht störten.
    Als sie diesen Schönheits-/Friseur-/Haarwaschsalon verließ, war Selvaggia eine noch himmlischere Erscheinung als sonst: Ihre zu einem perfekten Chignon hochgesteckten Haare waren von winzigen, wahnsinnig romantischen Glitzersteinchen förmlich übersät. Trotzdem musstest du das alles für dich behalten und durftest ihr nicht das kleineste Kompliment machen: Nervös wie sie war, hätte sie bloß protestiert und gesagt, sie sei ja noch längst nicht fertig.
    Zu Hause ludst du ihre Sachen in den Kofferraum – nicht ohne ihren Kleidersack mit einem Vorhängeschloss zu versehen, um ihr Outfit vor den Begeisterungsausbrüchen eurer Mutter und deiner Neugier zu schützen. Dein Vater saß schon am Steuer, legte in notarmäßiger Ungeduld den Rückwärtsgang ein und forderte alle zum Einsteigen auf, da ihr bereits spät dran wart.
    Auf der Fahrt musste sich eure Mutter so einiges anhören. Laut eurem Vater hatte sie sich für einen »simplen Tanzwettbewerb« – was prompt zu einer beleidigten Reaktion bei Selvaggia führte: » rhythmische Sportgymnastik , Papa!« – fein gemacht wie für eine Opernpremiere an der Scala. Tatsächlich trug sie ein dunkles, knielanges Abendkleid, dazu Schuhe mit zwölf Zentimeter hohen Absätzen, eine schwarze, mit katzen augenartigen Klunkern besetzte Abendhandtasche und eine Stola, um sich so auf den Plastikstühlen des Sportpalasts niederzulassen.
    Trotz des Gelabers eurer Eltern, die ganz aufgeregt waren bei der Vorstellung, dass ihre Kleine vor halb Verona auftreten würde, merktest du, dass Selvaggia sich vor lauter Nervosität etwas zurückgezogen hatte und verschlossener war als sonst. Um sie zu beruhigen, nahmst du ihre Hand. Sie lächelte, mied aber deinen Blick. Trotzdem wusste sie, dass du bei ihr warst.
    Im Sportpalast trennten sich eure Wege: Sie ging zu den Umkleiden und ihr zur Tribüne. Ihr hattet ihr bereits gesagt, dass ihr an der Längsseite der Bühne in der dritten Reihe Platz nehmen würdet, damit sie euch sofort entdeckte oder besser gesagt dich , wenn du ihr einen Gruß oder Kuss zuwarfst und umgekehrt.
    Noch war der Sportpalast halb leer, und die locker über die Ränge verteilten Familien waren genauso aufgeregt wie ihr bei der Vorstellung, dass ihre Töchter vor so großem Publikum auftreten würden. Unbeholfen sorgten sie für Stimmung: Man lief auf und ab, zupfte die Frisur zurecht, kontrollierte Uhren und Handtaschen, während Kinder krakeelten und unpassende Pfiffe ertönten. Du dagegen ließt das nüchterne Ambiente auf dich wirken, konzentriertest dich vor allem auf den Eingang zu den Garderoben und hieltst ununterbrochen nach Selvaggia Ausschau. Ob sie wohl schon fertig war, insgeheim noch einmal ihre Choreografie durchging? Oder lieber doch nicht? Wer weiß, was ihr in diesem Moment durch den Kopf schoss. Langsam füllten sich die Zuschauertribünen, während dein in Glencheckkaro gewandeter Vater ein paar Worte mit deiner Mutter wechselte.
    Um vier platzte der Sportpalast beinahe aus allen Nähten vor Zuschauern, die förmlich ausgehungert waren nach Darbietungen. Auch du warst logischerweise ganz aus dem Häuschen vor

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