Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
…«
»Wie lange?«
»Das kann ich nicht sagen! Nur ein paar Minuten …«
Whorrel protestierte empört, als sich Chang erneut gewaltsam Zugang verschaffte. Wieder blieb es auf das Krachen hin still. Chang drängte hinein und sah den Grund dafür.
Lady Axewith lag auf dem Teppich und starrte in eine Scheibe aus wirbelndem Blau – eine einzelne Seite, die aus einem Glasbuch herausgelöst worden war. Ihr Mund stand offen, und Speichel tropfte auf das Glas. Die Fingernägel an ihrer Hand waren abgebrochen und gelblich verfärbt, als würden die Fingerspitzen langsam absterben. Ihre Lippen waren rau, das Zahnfleisch entzündet und die Nasenlöcher mit rosafarbenem Ausfluss verkrustet.
Whorrel wollte zu seiner Herrin eilen, doch Chang packte ihn am Arm.
»Was hat sie denn?«, fragte Whorrel.
»Ziehen Sie sie da weg. Sofort.«
Der Butler versuchte, seine Herrin aufzusetzen, aber sie wollte beim Glas bleiben. Chang zertrat die Glasplatte. Lady Axewith keuchte protestierend. Er hörte das Würgen in ihrem Hals und trat beiseite, als sie sich erbrach, erst auf die Scherben und dann, als sie in Whorrels Arme sank, über die Vorderseite ihres Kleids. Sie verdrehte die Augen und tastete mit den Händen in der Luft umher.
»Du lieber Gott! Ist das ein Anfall?« Whorrel blickte hilflos zu Chang. »Ist es ansteckend?«
»Nein.«
Das Fenster über dem Schreibtisch stand offen. Auf dem Schreibtisch stand eine Blendlaterne mit brennendem Docht neben einem Stapel bunter Glasrechtecke. Die Rechtecke passten in die Blende und tönten das Licht: eine Signallampe, die sogar am Tag benutzt werden konnte, sofern der Empfänger ein Teleskop besaß. Chang blickte über die umliegenden Dächer und setzte sich dann an den Schreibtisch, um ihn zu durchsuchen – wobei er seine Begriffsstutzigkeit verfluchte.
»Eine solche Verletzung der Intimsphäre kann ich nicht dulden!«, rief Whorrel. »Lady Axewith’ private Unterlagen …«
Doch Chang hatte bereits ein kleines Messingfernglas entdeckt. Er blickte durch die Okulare und drehte an dem Rädchen, um es scharfzustellen. Verzerrte Giebel und Dachvorsprünge hüpften wie ein Bühnenbild von gemalten Wellen auf und ab. Er wischte sich die Augen am Ärmel ab und schaute erneut hindurch. Ein höher gelegenes Fenster … ein Schreibtisch, ein Tisch … und noch eine Laterne.
»Was soll ich tun? Soll ich den Arzt rufen?«
Der Butler hatte seine Herrin von dem blauen Glas weggezerrt und ihr Gesicht und ihre Vorderseite gereinigt. Ihre Augenlider flatterten. Die Silberkette mit den blauen Steinen schimmerte an ihrem Hals. Chang riss daran und zerbrach dabei den Verschluss. Lady Axewith schrie. Whorrel griff nach der Halskette, aber Chang zog sie auf Armeslänge weg, als wäre der Mann ein Kind, das es auf eine Süßigkeit abgesehen hatte. Er hielt sie ins Licht und blickte in einen der blauen Steine. Sein Körper reagierte auf den delirösen Inhalt so sehnsüchtig wie ein Liebhaber, und dass der Bann brach, war nur Whorrel zu verdanken, der ihn an der Schulter berührte. Chang schüttelte den Kopf und staunte über die praktische Veran lagung der Contessa. Die eingefangenen Erinnerungen eines Opiumessers waren genauso süchtig machend wie die Droge selbst, nur eben ortsungebunden und leicht zu verstecken – und sie konnte ganz einfach in das Leben dieser ehrbaren Dame eindringen, und das in fortwährendem Kontakt mit ihrer Haut. Sein Blick fiel auf die zerbrochene Platte auf dem Fußboden, und ihn schauderte bei der Vorstellung, welche extremen Dinge sie enthalten hatte, um Lady Axewith’ Abhängigkeit nur noch zu verstärken.
Er ließ die Kette auf den Boden fallen und zertrampelte die Steine zu Staub. Whorrel versuchte, ihn daran zu hindern, aber Chang stieß den Mann gegen die Wand.
»Die Halskette ist Gift«, sagte Chang heiser. »Durchsuchen Sie ihre Sachen nach blauem Glas. Vernichten Sie alles. Berühren Sie es nicht, schauen Sie nicht hinein, oder Sie werden bei lebendigem Leib verrotten.«
»Aber was … was ist mit Lady Axewith?«
»Zerstören Sie das Glas. Holen Sie einen Arzt. Vielleicht kann man sie retten.«
Chang verließ den Raum und ging die Treppe hinunter, während Whorrels klagender Ruf über ihm erschallte: »Vielleicht? Viel leicht? «
Wortlos ging Chang an dem Lieutenant am Tor vorbei. Hinter der nächsten Ecke rannte er los zu St. Amelia’s. Cunsher kam ihm durch den Verkehr entgegen, und in wenigen abgerissenen Sätzen erzählte Chang, was vorgefallen
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