Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
hatte. Ob es nun das dem Prinzen unterstellte vierte Dragonerregiment im Dienste von Minister Crabbé war oder Ministerialbeamte, die den Anordnungen von Mrs. Marchmoor Folge leisteten, oder die für die Privatarmee von Xonck angeheuerten Kerle, durch das alles war für Miss Temples jugendliche Vorstellungen von Autokratie ein Modell, nach dem die Welt funktionierte, wieder und wieder bestätigt worden. Zeichen für große Macht, wie sie eine dicke Bienenkönigin innehatte, war eine Bevölkerung fügsamer Drohnen.
Während sie neben der Herzogin herging, nahm Miss Temple einen vollkommen anderen Mechanismus wahr. Die Herzogin war keine ehrfurchtgebietende Erscheinung, nicht hinsichtlich Schönheit, Einfluss oder Scharfsinn, und trotzdem rang sie jedem, der vorüberkam, bereitwillige Hochachtung ab. Miss Temple verglich das mit ihrer eigenen Ankunft, als sie Colonel Bronque gefolgt war, und dem vergleichsweisen Desinteresse, das der Colonel erfahren hatte, obwohl die Bedeutung seines Auftrags klar gewesen war. Die Herzogin erweckte trotz ihrer emotionslosen Art unverhohlenen Respekt. Und auch wenn Hofbeamte wie Mr. Nordling, der mit Kelling und dem Doktor fortgeschickt worden war, augenblicklich den Anordnungen der Herzogin Folge geleistet hatten, so schienen sie doch nicht ihre Lakaien zu sein.
War nicht der engste Kreis um die Königin das steifste, hierarchischste Gebilde, das existierte?
Miss Temple lauschte aufmerksam den Grüßen ihrer Führerin und den Bemerkungen bezüglich einer Menge Dinge, die angesichts der Krise vollkommen trivial erschienen.
Wen kümmerten schon Milchlieferungen oder Einladungen zum Konzert in der nächsten Woche? Je trivialer die Aufgabe war, mit der eine Person beschäftigt war, bemerkte sie, desto aufgeregter erschien diese Person, und ihr Gang hatte einzig dazu gedient, dass die Herzogin – selbst emotional erschöpft, wie Miss Temple wusste – das Durcheinander bei Hofe geglättet hatte, wie ein Schildplattkamm nasses, zerzaustes Haar glättete … und alles ohne Drohungen, Schläge oder auch nur ein einziges lautes Wort.
Miss Temple zog daraus keinen Schluss, denn wenn es zum Kampf käme – was in ihrer Welt am Ende offenbar stets geschah –, sah sie nicht, wie sich die Herzogin gegen Colonel Bronques Soldaten hätte zur Wehr setzen sollen. Aber sie hielt Augen und Ohren offen.
Die Aussicht auf Gewalt brachte Miss Temples Gedanken auf die Contessa, was wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens gelten würde. Angenommen, die Frau war schließlich doch geflohen, warum ausgerechnet jetzt? Was hatte sich verändert, oder was hatte sie schließlich erreicht? Miss Temple hielt es für möglich, dass die Contessa auf Colonel Bronque vertraut hatte und nur angesichts der Neuigkeiten über seinen Verrat verschwunden war. Aber überzeugt war sie davon nicht, und ihre Zweifel nahmen zu, als die Herzogin sie über eine feuchte Treppe, vorbei an abblätternden Wänden und hinunter auf die Ebene der Bäder führte.
Sie blieben vor einer weiteren Metalltür mit Eisenrad in der Mitte stehen, flankiert von zwei stattlichen Dienern, deren weiße Perücken in der feuchten Luft ganz eingesunken waren. Beim Anblick der Herzogin nahmen sie Haltung an, doch ihre Absicht, die Tür zu öffnen, wurde von einem lauten Schrei unterbrochen. Miss Temple drehte sich um und sah einen Trupp von ungefähr einem Dutzend Personen hinter ihnen die Treppe herunterkommen.
»Bleiben Sie bei ihnen«, sagte die Herzogin. Die Diener zogen Miss Temple hinter sich, sodass sie das Metallrad im Rücken spürte und sich dabei vorkam wie eine schwache, jedoch wertvolle Schachfigur.
Mr. Schoepfil traf als Erster vor. Auf seinem geröteten Gesicht zeigte sich unübersehbar Ärger, und sein Tonfall war schneidend. »Ich will Antworten, Madam! Ich will Antworten!«
Hinter ihm tauchte in dem Durcheinander Mr. Kelling auf, der noch immer die Kiste mit dem Lederkoffer trug, dann folgte Doktor Svenson, der sich missmutig das Kinn rieb, und zwischen ihnen Mr. Nordling. Den Rest der Gruppe kannte Miss Temple nicht – Soldaten aus Bronques Regiment, Männer in schwarzen Ministeriumsroben und mehrere Gestalten, die wie Nordling etwas elegantere Kleidung in unterschiedlichen Farben trugen und wahrscheinlich Mitglieder des Hofs waren.
Schoepfil nahm den länglichen Kasten in eine Hand und winkte damit. »Wo ist sie, Euer Hoheit? Wo haben Sie sie versteckt? Zwei Männer sind durch die Hand dieser Frau gestorben. Aber sie ist
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