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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Krämpfen am Boden wand. Er bekam keine Luft, seine Augen waren fast zugeschwollen, sein Gesicht rot angelaufen. Trotzdem warfen sie sich auf ihn. Er wehrte sich nicht, als sie ihn aus dem Raum zerrten, hinaus auf den Gang.
    Dort preßte ihn ein halbes Dutzend von ihnen zu Boden, und harte Schläge hagelten in sein Gesicht. Eine Weile lang verlor er das Bewußtsein.
    Das erste, was er sah, als seine Sinne wiederkehrten, war ein Mann in Polizeiuniform, der ihn eingehend musterte. Zwei andere Uniformierte drückten Christopher die Arme auf den Rücken.
    Sein Gegenüber entfaltete ein Papier, betrachtete es flüchtig, zeigte es dann den anderen. Christopher warf durch Tränenschleier einen Blick darauf. Es war eine Zeichnung. Sein eigenes Gesicht, gut getroffen. Ein Steckbrief. Lysander hatte ihn anfertigen lassen.
    »Dreckiger Mädchenmörder«, schnauzte ihn eine Stimme von hinten an, dann trieben sie ihn mit Schlägen und Tritten eine Treppe hoch, durch einen Torbogen ins Freie, in einen Innenhof der Burganlage. Endlich frische Luft.
    Ein Pferdewagen stand für ihn bereit, mit vergitterten Fenstern. Christopher wurde hineingeworfen, hinter ihm schnappten Riegel zu. Der Wagen setzte sich ruckend in Bewegung.
    Mit beiden Händen zog er sich am Gitter in die Höhe, starrte wie betäubt nach draußen. Starrte durch ein Raster aus Eisenstäben hinaus in eine ferne freie Welt.

ZWEITES BUCH
SIEBEN JAHRE SPÄTER 1904
KAPITEL 1
    Im Morgengrauen erwachte die Stadt aus dunklem Schlummer und streckte ihre Glieder. Sie wurde größer, die Türme höher, sie dehnte sich aus, während sich immer mehr Gebäude und Straßenzüge aus dem Dämmerlicht schälten. Einzelne Glutpunkte flammten in der düsteren Masse auf, Fenster, in denen sich der erste Schimmer des Tages brach. Wie ein Lauffeuer breitete sich dann der frühe Sonnenschein über die einzelnen Stadtteile aus, ein goldenes Glosen und Leuchten, das von Fenster zu Fenster, von Haus zu Haus übersprang. Von der Donau hoben sich die Nebel und lösten sich in Nichts auf. Stränge aus Rauch stiegen zum Himmel empor, erst vereinzelt, dann immer mehr, bis die ganze Stadt in Fesseln lag. Menschen lösten sich aus Türen und Torbögen, vereinten sich in Gassen und Straßen zu wimmelnden Kolonnen, wie Zahlenreihen im Aufmarsch einer mathematischen Gleichung.
    Die Dächerlandschaft Wiens breitete sich bei Tagesanbruch aus wie das steingewordene Abbild eines orientalischen Basars, wimmelnd und überbordend in seiner Verschiedenheit. Spitze Giebel und geschwungene Kuppeln, rußige Schlote und Kamine von zarter Anmut, kühne Horste mit Zinnenkränzen und flache, schnöde Barackendächer – sie alle schienen sich im Morgendunst hin und her zu schieben, ein Gedränge aus roten Ziegeln und grauem Schiefer. Unter ihnen erwachten Villen und Palais zu neuem Leben, Katen, Hütten und Mietskasernen grüßten türenschlagend den leuchtenden Morgen. Der Tag war da, und mit ihm kam die Erinnerung.
    Auras Erinnerung.
    Der Schaffner hatte eben erst an der Tür ihres Schlafabteils geklopft – »Wien in zwanzig Minuten!« –, aber sie war schon über eine Stunde lang auf den Beinen gewesen. Während der Zug die Vororte passierte, saß sie am Fenster und blickte hinaus. Vor ihr, auf dem winzigen Tischchen unterhalb des Fensters, lag etwas, das aussah wie eine Zigarre. Bei jedem Rumpeln und Rucken der Räder rollte es vor und zurück. Aura bremste es mit der Fingerspitze, sobald es von der Tischkante zu gleiten drohte.
    Ihr Blick streifte nachdenklich die Dächer und Fassaden, die Giebel, Erker und Stuckbalkone. Je näher der Zug den zentralen Bezirken kam, desto prachtvoller erschien ihr die Stadt. Aura fiel auf, daß sie Wien bei ihrem Aufenthalt vor sieben Jahren keines zweiten Blickes gewürdigt hatte. Die Schönheit und der Zauber der alten Kaiserstadt hatten sie vollkommen unberührt gelassen.
    Die Zigarre rollte wieder, und abermals hielt Aura sie auf. Gedankenverloren blickte sie auf das fingerlange Ding hinab. Es war plump gedreht und ohne Etikett. Noch einmal schob sie es mit dem Finger zurück, und erneut kullerte es durch die Vibration der Fahrt zurück, zu ihr. Ein wenig wie ihre Vergangenheit, die sie noch so oft von sich stoßen mochte – jedesmal vergeblich.
    Immer wenn die Gedanken an damals zurückkehrten, fanden sie eine andere, veränderte Aura vor. Selbst äußerlich. Sie trug das schwarze Haar jetzt kürzer, nur noch bis zu den Schulterblättern, und bei den seltenen Wegen, die

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