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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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vergeben, nicht wahr? Das macht es natürlich einfach für dich.«
    »Wenn du hier bist, um mich zu belehren, dann ist es vielleicht besser, wenn du gleich wieder gehst.«
    Nein, dachte sie im stillen, ich bin hier, um dich zu töten. Und vielleicht weißt du das sogar.
    Statt dessen aber sagte sie: »Wir haben bis heute nichts von Sylvette gehört.«
    Das folgende Schweigen schien Minuten zu währen, und als Aura es gerade von sich aus brechen wollte, ertönten draußen die Schritte des Wärters. Durch das Gitter schob er eine einzelne Kerze und ein Päckchen Zündhölzer herein.
    »Die Streichhölzer sind abgezählt«, sagte er. »Bringen Sie alle wieder mit raus, auch die abgebrannten.« Nach einem letzten neugierigen Blick durch das Gitter zog er sich zurück. Das Klirren der Schlüssel wurde leiser.
    Aura entzündete die Kerze, machte zwei Schritte nach vorne und befestigte sie mit Wachs in der Mitte des Zellenbodens.
    Als sie ihren Blick von der Flamme hob und ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnten, erkannte sie an der hinteren Wand eine Pritsche. Darauf saß jemand im Schneidersitz.
    Im zuckenden Gelb des Kerzenscheins lächelte er sie an. Er war abgemagert, nicht einfach schlank oder dünn, sondern regelrecht ausgehungert. Seine Augen waren tief eingefallen, als hätten sie in der Dunkelheit begonnen, sich zurückzuentwickeln, eine Art umgekehrte Evolution, die beschlossen hatte, tausend Generationen zu überspringen. Seine Wangen waren dunkle Gruben, bedeckt von wirren Bartstoppeln. Als er sprach, entblößten blutleere Lippen schlechte Zähne. Christopher trug graue Häftlingskleidung, die ihm selbst im Sitzen zu groß war. Seinen Schädel hatte man kahlrasiert, seine Hände waren schmal und knochig.
    »Großer Gott«, flüsterte Aura, und zum ersten Mal empfand sie Mitgefühl, beinahe Scheu, als sei ihr nach all den Jahren ein Toter aus seinem Grab entgegengetreten.
    »Männer, die junge Mädchen zerstückeln, genießen im Gefängnis besondere Privilegien«, sagte er ruhig.
    »Ich wäre gekommen, wenn Mutter mich fortgelassen hätte.«
    Aura schämte sich zutiefst. Sie als einzige hätte im Prozeß zu Christophers Gunsten aussagen können. Aber es stimmte: Nach ihrer Rückkehr ins Schloß der Familie hatte Charlotte veranlaßt, Aura für mehrere Wochen in ihrem Zimmer einzuschließen. »Es hat sieben Jahre gedauert, bis die Ärzte Mutter für unzurechnungsfähig erklärt haben«, sagte sie traurig. »Erst vor zwei Wochen wurde das Vermögen auf meinen Namen überschrieben. Jetzt bin ich hier.«
    Christopher blieb ruhig. »Vor Gericht wurde der Polizist verhört, dem du von dem alten Mann in der Hütte erzählt hast. Der Ankläger hat ihn nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen, bis er dastand wie ein besoffener Vollidiot. Mit dir hätten sie nur das gleiche gemacht.«
    »Lysanders Einfluß.«
    »Er kontrolliert alles hier. Sogar die Schläger, die mich anfangs jeden Tag bearbeitet haben. Aber ich glaube, er hat irgendwann das Interesse verloren. Die Prügel sind in den letzten Jahren seltener geworden.«
    »Die Polizei in Zürich hatte doch meine Personalien. Man hätte mich vorladen müssen und –«
    »Du hast dir die Antwort doch schon selbst gegeben: Lysanders Einfluß. Die Verhandlung war kurz und schmerzlos. Ein paar Zeugen, die schworen, mich bei der Entführung der Mädchen erkannt zu haben – das war alles.« Er hob die Schultern und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Aber das spielt keine Rolle mehr.« Er verdrängte das Thema mit solchem Gleichmut, als habe man nicht ihn, sondern einen anderen zu lebenslanger Haft verurteilt. »Du hast gesagt, Sylvette sei noch immer verschwunden?«
    »Sie wurde vor zwei Jahren offiziell für tot erklärt.«
    »Glaubst du das? Ich meine, daß sie tot ist?«
    »Nein. Sie muß noch bei Lysander sein.« Der Gedanke daran tat weh, mehr als jeder andere. Zehn Jahre, hatte Lysander gesagt. Drei standen noch aus.
    Zum ersten Mal verzog sich Christophers Gesicht und offenbarte seine wahren Gefühle. Wut loderte über seine Züge. »Wir hätten sie damals befreien müssen. Irgendwie …«
    »Daniel und Gillian sind dabei ums Leben gekommen. Wir hatten nie eine Chance.«
    Darauf schwieg er. Aura dachte, daß er Sylvette sehr geliebt haben mußte.
    »Was ist aus dem Dachgarten geworden?« fragte er plötzlich und erstaunte sie erneut durch die scheinbare Willkür, mit der er den Gegenstand des Gesprächs wechselte. »Ich nehme an, du hast alles

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