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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie unter andere Menschen führten, verbarg sie es gänzlich unter einem breiten schwarzen Hut. Die meisten glaubten bei ihrem Anblick – den nachtfarbenen Kleidern und langen Mänteln –, sie trage Trauer, und vielleicht verbarg sich in dieser Annahme eine viel größere Wahrheit, als selbst Aura erkannte.
    Nicht alle Eindrücke von damals verfolgten sie, nicht jede Minute des Grauens, nicht jedes Wort, nicht jeder Anblick. Manches davon war verblaßt. Nicht gänzlich fort, aber die Intensität hatte nachgelassen. Noch immer spürte sie den Schmerz ihrer Verluste, und auch die Verzweiflung von damals stieg manchmal in ihr auf. Doch ebenso waren ihr einige Facetten dieser Empfindungen fremd geworden. Sie sagte sich – vielleicht ein wenig vorschnell und allzu sehr auf Selbstschutz bedacht –, daß es die Erinnerungen eines Mädchens waren, nicht die der Frau, die sie heute war.
    Doch sie wußte, wie fadenscheinig solche Erklärungen waren. Sie war kein Kind mehr, gewiß, und in den vergangenen sieben Jahren hatte sich vieles verändert.
    Sie war jetzt fünfundzwanzig, doch in sich trug sie das Wissen von Jahrhunderten.
    Die Gittertür klirrte wie zerschlagenes Geschirr, als der Wärter sie aufschloß und nach innen drückte. Die Bewegung kam wie von selbst, ganz ohne hinzusehen, und darauf war er nach all den Jahren besonders stolz – zumindest versicherte er Aura dies, als er sie tiefer in die Ziegelgrotten des Gefängnisses führte.
    Sie schritten durch einen breiten Gang, in dessen Wände in Abständen von einigen Metern Metalltüren eingelassen waren. In der Mitte jeder Tür befand sich ein kopfgroßes Eisenrost, und es dauerte eine Weile, ehe Auras Blicke das fahle Dämmerlicht durchdrangen und hinter jedem Gitter ein wildes Augenpaar entdeckten.
    »Alles Einzelzellen«, erklärte der Wärter und löste einen polierten Knüppel von seinem Gürtel. Als hinter einigen Türen Rufe laut wurden, sprang er eilig vor und schlug kraftvoll gegen die Gitterluken. Der Lärm war ohrenbetäubend, und Aura wünschte sich, der Mann würde damit aufhören. Die anzüglichen Rufe der Gefangenen berührten sie nicht, doch das gellende Scheppern des Knüppels auf Eisen zog ihr die Eingeweide zusammen.
    Sie fühlte, sich plötzlich unwohl in ihrem bodenlangen schwarzen Kleid und dem Cape mit der hochgeschlagenen Kapuze – nicht etwa, weil heutzutage ein solcher Überwurf als antiquiert galt (mehr noch als damals, als sie einen, der ganz ähnlich aussah, der armen Cosima gestohlen hatte), nein, vielmehr, weil es in dieser Domäne männlicher Gewalt ihre Weiblichkeit so deutlich unterstrich. Denn Weiblichkeit wurde hier offenbar als Schwäche ausgelegt. Sogar im Blick des Wärters glühte ein Funken von Überheblichkeit, wann immer er sie ansah, obwohl er es anderweitig nicht an Höflichkeit mangeln ließ; dafür wäre auch der Betrag, den Aura ihm am Eingang zugesteckt hatte, viel zu hoch gewesen.
    Die Wände waren aus rotem Ziegelstein, der Boden grob gefliest. Wasserpfützen standen in der Mitte des Korridors, und Aura haßte die Tatsache, daß sie gelegentlich den Saum ihres Kleides um eine Winzigkeit anheben mußte, damit er nicht durch die Brühe schleifte. Einen Moment lang fragte sie sich, ob der Wärter mit Absicht diesen Weg gewählt hatte.
    Doch im Grunde war es ihr gleichgültig, solange er sie nur zum Ziel führte.
    »Wenn Sie wollen, können Sie Ihren Freund in seiner Zelle sprechen«, schlug der Wärter vor. »Bei verschlossener Tür, wenn Sie es wünschen.« Er schenkte ihr ein zweideutiges Grinsen – zweifellos das einzige, was sie hier geschenkt bekommen würde.
    »Wieviel?« fragte sie eisig.
    Er nannte einen Betrag und streckte gleich darauf die Hand aus. Aura zog mit betontem Gleichmut ein Bündel Geldnoten aus ihrer Tasche und zählte die entsprechende Summe ab. Der Wärter lächelte erfreut und ließ die Scheine wortlos in seiner Uniform verschwinden. »Niemand wird Sie stören«, versprach er.
    Aura glaubte ihm kein Wort. »Gehen Sie damit nicht ein großes Risiko ein?« fragte sie, während sie eine Eisentreppe hinaufstiegen. Die Stufen führten auf eine Balustrade, die zu beiden Seiten des Korridors verlief. Hier gab es noch einmal die gleiche Anzahl von Einzelzellen wie im Erdgeschoß.
    »Risiko?« Der Wärter schüttelte amüsiert den Kopf. »Sie gehen in die Zelle dieses Mörders, nicht ich.«
    Aura rümpfte verächtlich die Nase. »Er ist mein Bruder.«
    »Ihr Bruder hat ein halbes Dutzend junger

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