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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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dann warf er die Schranktür zu und löschte bebend die Kerzen. Im Zwielicht einer fernen Korridorlampe eilte er zurück in sein Zimmer, verschloß die Tür und ergab sich zitternd der Gnade Gottes und dem Balsam seiner Träume.
    Im Dunkel der Nacht träumte Gian von Tess.
    Es war keiner der Träume, die ihn sonst heimsuchten, keine Bilder aus der Vergangenheit der Insel.
    Alles, was er sah, war Tess’ Gesicht, ganz groß und leuchtend vor ihm. Ihre zarten Züge, viel zu feingeschnitten, um kindlich zu wirken, umrahmt von hellblonden Locken. Das Blau ihrer Augen, so klar wie die See an Sommertagen und mindestens ebenso tief.
    Lange blickte sie ihn einfach nur an. Dann, plötzlich, öffneten sich ihre Lippen, und sie sagte etwas. Einen Satz nur:
    »Der Seemann hat ein neues Rad.«
    Gian erwachte. Tess lag auf der anderen Seite des Zimmers, in einem Bett, das die Diener dort für sie aufgestellt hatten. Im Dunkeln konnte er vage ihren goldenen Haarschopf zwischen Kissen und Decke erkennen. Sie rührte sich nicht, gab keinen Laut von sich.
    In seinem Kopf aber hörte Gian immer noch ihre Stimme, vom Wachsein verweht wie die Signalhörner der Schiffe im Sturm.
    Der Seemann hat ein neues Rad.
    Beim Frühstück erzählte er Aura und Christopher von seinem Traum. Sie blickten einander fragend an, sahen auch zu Tess hinüber, die ungerührt heiße Schokolade schlürfte.
    »Es ist nicht das erste Mal, daß ich diese Worte höre«, sagte Christopher schließlich, sichtlich unentschlossen, ob er vor den beiden Kindern darüber sprechen sollte. Auras ungeduldiger Blick nahm ihm die Entscheidung ab.
    »Es war damals«, sagte er, »als Nestor starb. Gillian hat dabei dasselbe zu ihm gesagt.«
    Gian schaute neugierig von Christopher zu Aura. »Warum war Vater dabei, als Großvater starb?«
    »Er wollte ihm helfen«, sagte Aura schnell.
    Der Junge gab sich damit nicht zufrieden. »Muß ich jetzt auch sterben, weil ich diese Worte gehört habe?«
    »Lieber Gott, natürlich nicht!« Sie hätte vielleicht aufspringen und ihn umarmen müssen, doch ihre Erschütterung fesselte sie wie Ketten an ihren Platz. »Das war nur ein Traum, mein Schatz. Nur ein Traum.«
    Da schaute Tess von ihrer Tasse auf. Ihr Mund hatte einen braunen Schokoladenrand. »Ich habe das gleiche geträumt.«
    »Ist das wahr?« fragte Christopher zweifelnd.
    »Ich hab’s geträumt, wirklich«, beharrte sie in kindlichem Trotz.
    »Aber es war Gian, der gesprochen hat, nicht ich.« Sie versuchte, Gians Stimme nachzuahmen, und kicherte dabei. »Der Seemann hat ein neues Rad.«
    Als die Kleine die Worte wiederholte, wurde Aura schlagartig bleich.
    »Was ist los?« fragte Christopher besorgt.
    »Ich glaube –«, begann sie, führte den Satz aber nicht zu Ende. Statt dessen stand sie auf und lief zur Tür. »Komm mit.«
    Gian und Tess sprangen ebenfalls von ihren Stühlen, doch im Hinauslaufen rief Christopher ihnen zu: »Ihr bleibt hier. Wir sind gleich wieder da.«
    Aura hörte, wie die Kinder murrten, doch sie konnte im Augenblick nur eines denken: die Wörter »Seemann« und »Rad«.
    »Verrätst du mir, was los ist?« fragte Christopher unwirsch, als er sie einholte.
    »Oben«, sagte sie knapp, »in Vaters Bibliothek.«
    Sie stürmten die Treppen zur ersten Etage hinauf, dann den Gang entlang zu der schmalen Stiege, die vor der Tür mit dem Pelikanrelief endete.
    Christopher wirkte verwirrt, aber Aura hatte im Moment ganz andere Sorgen. Wenn es stimmte, was sie vermutete – was hatte es dann zu bedeuten?
    Sie schloß die Tür auf. Feuchtwarme Luft schlug ihnen entgegen.
    »Viel hat sich hier nicht verändert.« Christophers Blick schweifte über die Versuchsanordnungen des Laboratoriums. Einige der tropischen Gewächse im Dachgarten waren höher geworden, doch das war auch schon alles.
    »Vater hat Jahrzehnte gebraucht, um alles so herzurichten, wie er es für das beste hielt«, sagte Aura. »Warum hätte ich daran etwas ändern sollen?«
    Sie lief voraus, durchs Laboratorium zu der winzigen Tür, die in Nestors Bibliothek führte.
    »Warte!« rief Christopher zögernd. »Früher gab es hier eine Art Helm, so ein Ding aus Glas.« Er fuchtelte erklärend mit den Händen Aura trat an einen der Schränke und kramte darin herum. Schließlich zog sie den gläsernen Helm hervor. »Meinst du den hier?«
    Christopher nickte. Ihm war sichtlich unwohl, als er den durchsichtigen Zylinder über den Kopf zog und den Lederbund am Hals zuzurrte. Seine Stimme klang dumpf.

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