Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
und in den langen Korridor einbog, der zu ihrem Zimmer führte, wurde ihr mit einem Mal klar, daß nach sieben Jahren niemand mehr übrig war, den sie hassen konnte. Lysander war tot, und Christopher hielt sie für seine Freundin; vielleicht war sie das sogar. Von einem Tag auf den anderen hatte sich ihr ganzes Weltbild auf den Kopf gestellt.
Während Aura in ihrem Zimmer verschwand, schaute Christopher sich in seiner alten Unterkunft um. Aura hatte recht: Hier drinnen hatte sich kaum etwas verändert, seit er die Insel verlassen hatte. Vielleicht, weil er auch damals immer nur ein Gast gewesen war. Er hatte sich selbst dazu gemacht, indem er Tag und Nacht auf dem Dachboden verbrachte.
Einen winzigen Moment lang überkam ihn der Drang, hinaufzusteigen, sich im Laboratorium umzuschauen, die Pflanzen zu betrachten. Ob Aura Veränderungen vorgenommen hatte? Er hielt seine Neugier jedoch im Zaum und beschoß statt dessen, Aura am nächsten Tag um Erlaubnis zu bitten. Es war nicht mehr sein Dachgarten. Christopher war jetzt wieder ein Fremder im Schloß, aber er fühlte kein Bedauern bei diesem Gedanken.
Auf einem Stuhl neben dem Bett lagen Kleidungsstücke. Jemand aus der Dienerschaft mußte damals seine alten Sachen aufgehoben haben. Die Hosen und Hemden würden ihm sicher zu weit sein. Dennoch war er dankbar dafür.
Er wollte sich ausziehen und zu Bett gehen, als ihn plötzlich die Erinnerung an Sylvette überkam: an die Freude in ihrem Gesicht, als er ihr zum Geburtstag die Haartinktur geschenkt hatte; an ihre gemeinsamen Ruderpartien rund um die Insel und an die vielen Stunden, in denen sie sich unterhalten hatten wie gleichaltrige Geschwister. Die Bilder von damals trafen ihn wie Pfeilspitzen, vergiftet mit Trauer und Schuldgefühlen. Dies waren keine neuen Gefühle für ihn, er hatte sie im Gefängnis tausendmal durchlebt, aber hier, an diesem Ort, waren sie um ein Vielfaches stärker.
Mit zitternden Fingern entzündete er die Kerzen des Leuchters auf dem Kamin. Erst zögernd, dann zielstrebig, trat er wieder hinaus auf den Flur und ging hinüber zur Tür von Sylvettes altem Zimmer.
Mach auf, und sie wird dasein. Genau wie damals. Sie wird dich anlachen, und alles ist gut.
Das waren törichte Gedanken, natürlich. Er legte die Hand auf die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen. Sie ließ sich mit einem schleifenden Laut nach innen drücken.
Es war noch immer das Zimmer einer jungen Dame. Auf dem Garderobentisch standen dieselben Cremes und Duftwässer. Kämme und Bürsten lagen da, als sei ihre Besitzerin nur für einen Moment hinausgegangen. Auch die beiden Stofftiere saßen nach wie vor auf dem Himmelbett, ihre schwarzen Knopfaugen starrten glitzernd in Christophers Richtung.
Eine Weile lang stand er im Türrahmen und kämpfte mit den Tränen. Die Erinnerung durchzog den Raum wie eine unsichtbare Mauer; es war so schwer, dagegen anzugehen. Mit schleppenden, zögernden Schritten trat Christopher an den großen Kleiderschrank.
Er öffnete eine der blumengemusterten Türen, schob die Bügel mit den Spitzenkleidern beiseite und suchte das, was all die Jahre in der Dunkelheit auf ihn gewartet hatte. Sylvettes Geheimnis.
Wie damals war es mit einem schwarzen Tuch verhängt. Im Flackern der Kerzen wirkte der Faltenwurf wie die Fratzen gotischer Wasserspeier. Christopher stellte den Kandelaber am Boden ab, dann zog er langsam das Tuch von dem flachen, gemäldegroßen Gegenstand. Damals hatte Sylvette ihm angeboten, ihm ihr Geheimnis zu offenbaren, und er hatte abgelehnt. Heute wußte er: Wenn er sehen würde, was es war, würde es nichts mehr geben, das ihn von der Suche nach ihr abbringen konnte. Er schwor sich, daß er sie finden würde. Um jeden, noch so hohen Preis.
Das Tuch fiel, und Christopher blickte in einen Spiegel. Der Rahmen war reich verziert und mit Goldfarbe bemalt, er sah aus wie neu. Die Spiegelfläche dagegen war von dunklen Rissen durchzogen. Wie schwarze Blitze teilten sie das Glas in Hunderte von Facetten, ein Spinnennetz aus rasiermesserscharfem Kristall.
Christophers Gesicht war im Spiegel geborsten und verzerrt, eine Grimasse aus gezahnten, spitzen Bruchstücken. Wie versteinert blickte er sich selbst in die zerrissenen Augen. Der Kerzenschein fiel von unten geisterhaft gelb in sein Gesicht, vertiefte die eingefallenen Wangen und Augenhöhlen, hob Knochen und Stirn hervor. Ein Totenschädel, von den Rissen im Glas zum Grinsen gebracht.
Er ertrug den Anblick nur wenige Sekunden,
Weitere Kostenlose Bücher