Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Frieden das richtige Wort.
»Tess schläft in Gians Zimmer«, sagte Aura. »Zumindest bis sie sich im Schloß eingelebt hat. Ich habe das Gefühl, sie taut in seiner Nähe ein wenig auf.«
»Dann hat er wohl auf Frauen die gleiche Wirkung wie sein Vater.«
»Eifersüchtig?« Sie hatte geglaubt, er mache einen Scherz, doch seine Antwort klang bemerkenswert ernst.
»Nicht mehr.« Einen Augenblick später fuhr er fort: »Ist Gian …?«
»Ein Zwitter wie sein Vater? Nein, er hat keine weiblichen Merkmale. Zumindest keine sichtbaren.«
»Wenn du dich mit den Büchern deines Vaters beschäftigt hast, kennst du die Bedeutung des Hermaphroditen in der Alchimie.«
»Er symbolisiert die Suche des Alchimisten nach Vollkommenheit«, sagte sie. »Das Wirken der weiblichen und männlichen Prinzipien bestimmt den Lauf der Welt. Die Zeugung ist nur eines von vielen Beispielen. Beide Prinzipien sind in jedem Menschen vorhanden, und auf dem Weg zur Vollkommenheit muß der Alchimist beide Teile in seinem Inneren wiederentdecken und nutzen.«
Der Flammenschein zuckte über Christophers hagere Züge, als er die Bibel zitierte: »Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin geben, die um ihn sei. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm.«
Aura nickte zustimmend. »Sogar das Christentum akzeptiert den weiblichen Anteil im Leibe Adams.«
»Damit war der erste Mensch auch der erste Hermaphrodit. Und auch der letzte, der vollkommene Mensch, wird Hermaphrodit sein.«
Plötzlich begriff sie, worauf er hinauswollte. Es traf sie wie ein Schlag. »Du glaubst, Lysander hat so große Stücke auf Gillian gehalten, weil –«
»Weil er ihn auf irgendeine Weise erschaffen hat, ja«, unterbrach Christopher sie. »Lysander oder irgendein anderer Alchimist.«
»Aber wir reden doch von Symbolen, von philosophischer Theorie! Niemand erschafft einen anderen Menschen – nicht im Sinne der Alchimie!«
»Das Ziel des Adepten ist die Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips.«
»Im Geiste, vielleicht«, widersprach Aura beharrlich. »Aber nicht ganz konkret in der Wirklichkeit.«
»Und wenn es dennoch jemandem gelungen wäre?«
»Gillian war ein Mensch, kein alchimistisches Experiment!«
Einen Moment lang mußte sie sich zwingen, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. »Und selbst wenn es so wäre, wie du sagst, es ist ohne Bedeutung. Nichts davon ist noch von Bedeutung. Gillian ist tot.«
»Aber sein Sohn lebt. Dein Sohn, Aura! Vielleicht sollten wir uns die Frage stellen, ob ein Wesen, das durch Alchimie erschaffen wurde, normale Kinder zeugen kann.«
»Willst du damit sagen«, fauchte sie zornig, »Gian sei kein normales Kind?«
»Du willst mich mißverstehen, nicht wahr? Ist dir denn gar nichts aufgefallen?«
Einen Augenblick lang wünschte sie fast, Gian sei der Sohn einer anderen Frau – vielleicht hätte sie dann das, was Christopher ihr sagen wollte, objektiver betrachten können. So aber nahm sie den Jungen instinktiv in Schutz.
»Erklär es mir«, forderte sie ihn auf, und in ihrem Tonfall schwang eine leise Drohung mit.
Christopher seufzte. »Wie viele Tage waren wir jetzt mit Tess zusammen? Drei?«
Aura nickte stumm.
»Sie hat während dieser drei Tage kaum ein Wort gesprochen«, fuhr er fort. »Es war, als hätte sie vorher nichts zu sagen gewußt. Und nun, ganz plötzlich, platzt sie mit Dingen heraus, die ihr eigentlich vollkommen fremd sein müßten. Dafür muß es doch einen Auslöser gegeben haben.«
»Mutters Auftritt?«
»Nein«, entgegnete Christopher. »Gian.«
»Du glaubst allen Ernstes, er sei der Grund für Tess’ verändertes Verhalten?«
»Die beiden haben zusammen unterm Tisch gesessen«, erklärte Christopher. »Dabei haben sie sich berührt. Setzen wir einmal voraus, Gian sei durch das Erbe seines Vaters ein alchimistisches Geschöpf – das klingt furchtbar, ich weiß, aber laß es uns einmal annehmen.«
Aura schaute ihn schweigend an.
Christopher sprach weiter: »Auch Tess ist in gewisser Weise das Produkt eines hermetischen Experiments: das Kind eines Alchimisten mit seiner leiblichen Tochter. Wir können wohl davon ausgehen, daß sie nicht mit dem Stein der Weisen identisch ist, wie Lysander es sich erhofft hatte – dennoch steckt das alchimistische Erbe in ihr.« Er hielt inne, als müsse er sich erst selbst von seinen Theorien überzeugen. »Wir haben also zwei Geschöpfe der Alchimie, Gian
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