Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
»Ziemlich albern, was? Wenn ich bedenke, daß ich früher damit täglich in die Bibliothek gegangen bin …«
Aura setzte sich ungeduldig in Bewegung. »Kommst du nun mit?«
Sie wartete nicht auf seine Antwort und öffnete die Tür. Gebückt schlüpfte sie hindurch, Christopher folgte ihr. Sie trat an den Reihen der Bücherregale entlang und blieb an einem der beiden Fenster stehen.
»Und?« fragte er. Doch dann folgte er ihrem Blick.
Das Bleiglasfenster zeigte Buchstaben, nicht wie die meisten anderen im Schloß ein Symbol oder eine Szene. Christopher hatte es damals schon bemerkt, aber nie über die Bedeutung nachgedacht. Aus bunten Glassplittern waren fünf Reihen mit je fünf Buchstaben zusammengesetzt:
»Ein anagrammatisches Quadrat«, erklärte Aura. »Egal, aus welcher Richtung man es liest, ob von oben oder unten, senkrecht oder waagrecht, immer ergeben sich die gleichen Worte.«
Christopher hatte während der Jahre im Gefängnis keinen einzigen lateinischen Satz zu lesen bekommen. Er schwitzte, als er sich jetzt schwerfällig an die Übersetzung machte. Das Glas seines Helmes begann zu beschlagen.
Aura kam ihm mit einem Lächeln zu Hilfe: »Der Sämann Arepo hält mit Mühen die Räder.«
Er starrte sie groß an. »Du glaubst, wir haben es falsch verstanden? Die Rede war nie von einem See-, sondern einem Sämann?«
Aura nickte überzeugt. »Einer, der die Saat aussät.« Sie trat vor und fuhr mit einer Fingerspitze über die gläsernen Lettern. »Ich habe vor Jahren einmal die Bedeutung in einem von Vaters Büchern nachgeschlagen. Es gibt einen Namen für diesen Satz: die Satorformel. Sie ist in der Vergangenheit mehrfach an den unterschiedlichsten Orten aufgetaucht. Zum ersten Mal, glaube ich, auf einer Münze aus dem alten Pompeji. Aber anagrammatische Quadrate sind grundsätzlich keine Besonderheit. Man hat sie auf allen möglichen Bauten und Gegenständen entdeckt: auf einer lateinischen Bibel aus dem neunten Jahrhundert, auf einem Faust -Manuskript in den Archiven der Herzöge von Coburg, sogar noch auf österreichischen Geldstücken aus dem sechzehnten Jahrhundert. Es gibt sie in Kirchen in Santiago de Compostela und Rochemaure, in Cremona in Italien und auf Schloß Jarnac in Frankreich.« Sie ging zum Nachbargiebel und deutete auf das zweite Fenster der Bibliothek. »Hier ist noch eines, allerdings ohne Sämann und ohne Räder.«
Ihre Augen streiften die Buchstabenreihen, ohne ihren Sinn zu verstehen:
»Das klingt wie Latein,« sagte Christopher irritiert, »ist aber keines, oder?«
»Nein. Trotzdem stand etwas darüber in einigen der Bücher. Es heißt, dieser Spruch stamme noch aus der Zeit der –« Sie verstummte schlagartig, als ihr etwas klar wurde.
Christopher starrte sie an. »Was ist?«
»Aus der Zeit der Templer«, beendete Aura stockend ihren Satz. Es war Jahre her, daß sie sich für die beiden Fenster interessiert hatte, und es mochte ein willkürliches Zusammentreffen sein, daß sie Christopher erst gestern abend von den Tempelrittern in Gians Visionen erzählt hatte. Jetzt aber versetzte ihr die Übereinstimmung einen Schock.
»Bestimmt nur ein Zufall«, sagte Christopher schnell. Doch überzeugt klang er nicht.
Ein humorloses Lächeln huschte über Auras Züge. »Allmählich haben wir es mit einer ganz schönen Häufung von Zufällen zu tun, findest du nicht?« Die Worte hatten bissig klingen sollen, tatsächlich aber hörten sie sich nur müde und verwirrt an.
Christopher trat an einen Tisch zwischen den Regalen, auf dem ein paar Schreibutensilien lagen. Mit Papier und Bleistift kam er zurück zum Fenster und kopierte sorgfältig beide Buchstabenquadrate.
»Laß uns wieder nach draußen gehen«, sagte er dann und deutete auf den Glashelm. »Sonst bekomme ich einen Hitzschlag.«
Aura folgte ihm schweigend, während sich ihre Gedanken im Kreis drehten. Der Sämann und seine Räder, Satan und die Tempelritter, die Träume der beiden Kinder, Gians Visionen – alles vermischte sich in ihrem Kopf zu einem wilden Strudel, der jeden Ansatz einer klaren Überlegung in einen unergründlichen Abgrund zog.
Draußen ließen sie sich in die staubige Sitzgruppe unterhalb der Glasschräge fallen, wo einst Nestor seinen neuen Schüler in den Grundlagen der Alchimie unterwiesen hatte.
Christopher riß sich den Helm vom Kopf, atmete mehrmals tief durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die tropischfeuchte Luft des Dachgartens kam ihm nach den Minuten unter dem
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